Ferne Verwandte
mit hohen Bücherstapeln, zwei Altarkandelabern, einer gewöhnlicheren Tischlampe, zwei Armillarsphären, einem von Schlangen umzingelten kindlichen Herkules, ein paar Köpfen griechischer Denker und einigen kleinen tibetischen Idolen. Neben dem Schreibtisch befindet sich ein Fackelhalter, um dessen Schaft sich ein Drache windet, und auf der anderen Seite stehen
eine chinesische Statue, die Göttin Kali mit ihrem Armgewimmel und ein platt gedrückter Tintenfisch auf einer großen Bronzeplatte. An der Wand hängen zwei alte Karten von den Erdhalbkugeln. Ich gehe um eines der Bücherregale herum, die fast bis zur Decke reichen. Dahinter sickert ein schmaler Lichtstreifen durch die schwere Draperie vor dem Fenster, schneidet den Raum in zwei Teile und streicht über die Dormeuse, auf welcher der Professor liegt. Der Ärmel seiner Hausjacke schimmert blutrot, und seine gespenstisch blasse Hand wedelt ungeduldig: »Na also, wie lange brauchst du denn noch? Rasche Entschlüsse, lautet eine weitere Regel!«
Ich gehe auf ihn zu, immer noch von Castor und Pollux verfolgt, die sich vor ihm auf den Boden fallen lassen. Anders als in den anderen Räumen ist der Fußboden hier aus Holz, und nach dem dumpfen Plumpsgeräusch zu urteilen, ist er über einem Hohlraum ausgelegt. Der Professor nimmt die Schüssel, drückt die Stoffbrille aus, und bevor er sie sich auf die Nase setzt, sagt er: »Jetzt pass gut auf: Weck mich, sobald du hörst, dass ich zu schnarchen anfange. Sobald ich anfange , verstanden? In der Zwischenzeit lies meine Publikation über die Tempelritter, sie liegt auf dem Schreibtisch. Schalt ruhig die Lampe ein. Aber vergiss gefälligst nicht, mich aufzuwecken! Noch irgendwelche Fragen?« Ich hätte welche, aber es wären zu viele, deshalb verneine ich. »Gut so! Vertrauen in den Lehrer . Das ist die wichtigste Regel für den Schüler.«
Das enthüllte Geheimnis der Tempelritter ist ein dicker Wälzer mit einem zinnoberroten Kreuz auf dem marmorierten Einband und einem Epigramm, das lautet: »Allen Unglücklichen, den Opfern der menschlichen Ungleichheit«. Das Vorwort stammt von Herzog Pier Andrea Bellomo Rapaci. Es sind nur wenige Seiten, aber schon mehr als das, was ich in der Enzyklopädie Labor gelesen habe. Mein Meister hat unterdessen zu schnarchen angefangen. Ich stehe auf, gehe zu ihm, spreche ihn an. Einmal, zweimal, dreimal. Nichts. Nun erfordert das Aufwecken eines Schlafenden immer eine gewisse Dosis an Unverschämtheit, doch der eigene Lehrer ist gewiss nicht irgendein Schläfer. Andererseits war seine Forderung
unmissverständlich. Ich schüttle ihn also leicht. Ich schüttle ihn fester. Grob. Er hat einen Anfall von Muskelstarrkrampf erlitten - und mir steht der Sinn keinesfalls danach, ihn von der Dormeuse herunterzuwerfen, zumal Castor und Pollux mich inzwischen anknurren. Beim Anblick ihrer bedrohlichen Schnauzen fällt mir die Lösung ein: Ich beuge mich vorsichtig zum Meister hinunter und blase ihm ins Ohr. »Wer ist da? Wer ist da?«, fährt er hoch und seufzt dann: »Ach du bist es, Carlino.«
Dass auch er mich bei dem Namen nennt, der bei mir zu Hause verwendet wird, muss mir gefallen, denn noch bevor er mein Meister ist - das habe ich soeben begriffen -, ist er immer noch mein Literaturlehrer. Gewiss wird er mich angesichts der sich anbahnenden Beziehung, sollte ich eines Tages meine Lateinübersetzung vermasseln, immer noch bevorzugen. Unterdessen macht er wider Erwarten keine Anstalten aufzustehen. Er wirkt einen Augenblick wie betäubt und sagt dann: »Leider nichts.« Daraufhin lässt er sich wieder zurücksinken und fordert mich auf: »Sobald ich schnarche, weck mich, hm?« Das ist in der Tat ein merkwürdiges Verhalten. Während ich mir noch so meine Gedanken mache, flüstert er: »Du liest weiter. Nachher möchte ich deine Meinung wissen«, und ihn das sagen zu hören, ist eine große Genugtuung. Man stelle sich vor: Sabino Corelli, der berühmte Historiker, der sogar in der Fernsehserie Cronache italiane aufgetreten ist, bittet mich um meine Meinung! So stürze ich mich wieder auf die Lektüre, aber schon bald wird es mir zu bunt. Die Hypothese des Meisters deckt sich mit der von Medoro! Damit wir uns recht verstehen: Die Geschichte vom märchenhaften Schatz, den die Tempelritter irgendwo im Dorf versteckt haben sollen, wird hier von einer Menge Beweise flankiert, die dem verrückten Organisten unbekannt waren - Inschriften, Lieder, Sprichwörter, volkstümliche Erzählungen,
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