Ferne Verwandte
was so viel wie ›Rad‹ bedeutet - vollkommen identisch mit der tibetischen Knarre und Dutzenden von anderen Instrumenten, die bei den Ritualen apotropäischer Magie - von griechisch apotropein , ›jemanden Gefährlichen oder etwas Gefährliches vertreiben, bannen‹
- ebendeshalb benutzt werden, weil der Lärm, den sie erzeugen, die Verstorbenen abschreckt und sie ein für alle Mal aus der Welt der Lebenden verbannt, denn es gibt nichts Widerwärtigeres, als sich einem verwesten Toten gegenüberzusehen. Kurzum, mein lieber Carlino, die Kirche toleriert unwissentlich eine symbolische Modalität, welche die Negation ihrer eigenen Lehre darstellt, aber sobald die Wissenschaft ins Spiel kommt, verflüchtigt sich dank der Gelehrten sowohl die theologische als auch die menschliche Unwissenheit. He , he .«
Er zieht ein weiteres Mal an seiner Zigarre und fährt dann mit seinen Betrachtungen fort: »Nun könntest du dich fragen, warum ich nicht schon vorher darauf gekommen bin. Das fragst du dich, nicht wahr? Siehst du, unser Verstand ist ein großes Meer voller Wracks; es gilt herauszufinden, in welchem sich der Schatz verbirgt. Hier hilft dir nun die Vision weiter. Manche nennen es Glück, andere Intuition, aber wie immer man es auch nennen mag: Es ist die Kraft, die dich antreibt, in die richtige Richtung zu gehen, statt dich auf tausend anderen Wegen zu verzetteln. Für uns Forscher ist das wichtiger als jedes Talent, vergiss das nicht.«
Gestärkt durch diese fundamentale Erkenntnis, liebte es der Meister, während der täglichen Pause - der penneca - seine Phantasie schweifen zu lassen, um auf diese Weise zur »Vision« zu gelangen. Ihm genügten minimale Anhaltspunkte - eine einfache Namensgleichheit, der kryptische Absatz eines Gedichts oder eine vom Zahn der Zeit unleserlich gemachte Inschrift -, um zu den kühnsten Schlussfolgerungen vorzustoßen. Unter Anwendung dieser Methode hat er in seinem Werk Klärungsbedürftige Persönlichkeiten und Ereignisse ausführlich nachgewiesen, dass im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung mindestens ein Dutzend der Künstler, Denker und Politiker, die Italien groß gemacht haben, in unserem beschaulichen Dorf zur Welt gekommen sind oder zumindest ihre bedeutendsten Werke mit einem versteckten Hinweis auf selbiges geschaffen haben. In diesem Sinne war es ihm gelungen, das Nichtbeweisbare zu beweisen. So stellte er die mit Belegen
unterfütterte Behauptung auf, dass das Incipit von Manzonis Verlobten - trotz der augenscheinlichen Klarheit des Textes - nicht auf den Comer See Bezug nimmt, sondern auf unseren inzwischen ausgetrockneten Mefito-See, und dass die Protagonisten ihren Ursprung in der - nicht einmal besonders geschickten - Tarnung historischer Persönlichkeiten des Südens haben, denn der ganze Roman ist nichts anderes als das Plagiat des Werks eines aus unserem Dorf stammenden Mönchs, das der große lombardische Dichter zufällig in der Bibliothek der Familie Borromeo aufgestöbert hat. Kurzum, was für Medoro Sarchione reine Intuition geblieben war, verwandelte sich in den Händen Sabino Corellis mittels aufwendiger und komplizierter Analysen in Wissenschaft, und dies mit einem einzigen Ziel - das letzten Endes jeder Heimatforscher vor Augen hat -, nämlich nachzuweisen, dass das Scheißkaff, in dem das Schicksal einen das Licht der Welt erblicken ließ, in einer fernen Zeit der Punkt gewesen ist, von dem der entscheidende Anstoß für die Entwicklung der Kultur der Nation, ja der ganzen Welt ausging. Hatte nicht sogar John Milton, der größte unter den Dichtern Albions, das Werk Bruder Serafinos abgeschrieben, eines anderen bescheidenen Geistlichen, der durch unser Dorf gekommen war und einige Jahrzehnte früher gelebt hatte als der Engländer, aber trotz der hervorragenden Qualität seines Verlorenen Paradieses keinerlei Aufmerksamkeit erregt hatte? Auf welche Weise Milton davon erfahren haben mochte, stellte für den Meister ein nebensächliches Problem dar - »Nicht alles lässt sich erklären«, lautete der wichtigste seiner Leitsätze. Merkwürdig war es in der Tat, dass jenes Bildnis, welches Corelli mir noch am selben Tag zeigte, sehr starke Ähnlichkeiten mit Leonardos Mona Lisa aufwies, wenngleich mit grobem Pinsel gemalt. Noch merkwürdiger aber war, dass ein großer Teil der anderen zahlreichen und unglaublichen Entdeckungen meines Meisters in belobigenden Briefen, Bescheinigungen seiner Verdienste und Rezensionen seitens der Universitäten der halben
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