Ferne Verwandte
Fernsehapparat, in dem sich das Blitzlicht spiegelt. Kinder auf Sofas, die wie die Vorhänge und Tapeten meistens ein Blümchenmuster aufweisen, im Hintergrund Vitrinen, die schier überquellen von Flaschen der Marken Strega, Punt & Mes und Spumante Cinzano neben muschelüberkrusteten Gondeln, fluoreszierenden Schiefen Türmen von Pisa, Plüschpuppen und Bonbonnieren. Fotos von Buben im Feiertagsstaat, strahlend und stolz auf die weiße Schleifenrosette für die Erstkommunion; daneben Mädchen, die in den Kleidern kleiner Bräute schon jenes echte und schönere und teurere Kleid im Kopf haben, das sie so bald wie möglich tragen werden: Sie sehen sich schon einmal nach ihrem Märchenprinzen um. Fotos von Frischvermählten, er meist in einer glänzenden Jacke, aus der die Finger gerade noch herausschauen, eine blitzblanke Fliege am perlweißen Kragen, die Hosenbeine über den spitzen Schuhen ausgestellt; sie halb erstickt in der Organzawolke ihres Prachtkleides und unter dem ellenlangen, mit einem glitzernden Diadem befestigten Schleier; beide in Pose vor Kulissen mit Berglandschaften oder exotischen Stränden an einem wellenlosen Meer. Fotos von älteren Paaren, die inmitten menschlicher Pyramiden aus Kindern, Schwiegerkindern und Enkeln kaum zu sehen sind, bei der Feier ihrer Silber-, Gold-, Platin- oder Diamanthochzeit; Fotos von rüstigen, schnauzbärtigen Arbeitern mit vorquellenden Augen und Bäuchen, die sich in der Fabrik anlässlich eines gewonnenen Ehrenpreises zuprosten; dann Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern, Angestellte oder Carabinieri am Tag ihrer ersehnten Beförderung. Fotos, die im Dorf aufgenommen wurden oder in Iowa City, Montreal, Avellino, Chivasso, Tucson, Phoenix, Hoboken, Tacoma, Dünkirchen, Barletta, Bisceglie, Stuttgart, Rom, Acapulco, Turin, New York, Montevideo, Pozzuoli,
Paris, Battipaglia, Mexiko-Stadt, Kapstadt, Guatemala-Stadt oder Chicago - Schnappschüsse aus der ganzen Welt also, aber auch solche aus früheren Zeiten. Fotos von Gruppen vor dem Maskaron eines bemoosten Brunnens, unter einer Pergola an einem Augustmorgen, aufgestellt um eine funkelnagelneue Vespa auf einer Schotterstraße, zwischen den Zypressen des Kindergartens, auf dem Fußballplatz nach einem Match: Fotos voller Bedeutung, die Zeit und Erinnerung ihnen verleihen. Auf einem habe ich meine Mutter wiedererkannt, auf dem Weg, der zum Kloster hinaufführt. Sie war von Freundinnen und Freunden eingerahmt, in der Blüte ihrer Jahre, lächelte, hatte den Blick einem jungen Mann in Knickerbockers zugewandt, der just in dem Moment vom Objektiv festgehalten wurde, als er einen imaginären Speer warf, und ich habe mich gefragt, ob sie nicht besser ihn geheiratet hätte statt des Babbo. Fotos von Schulklassen aus einer Zeit, die zwanzig, dreißig Jahre zurückliegt, und die unweigerlich das alte Fragespiel auslösen: »Wer ist das?« und »Was ist aus ihm geworden?«. Der da ist nach Caracas ausgewandert, hat aber kein Glück gehabt. Die da hat einen geheiratet, der ein Lokal in Toronto besitzt. Der Kleine da in der zweiten Reihe? Was, hast du ihn nicht im Fernsehen gesehen, wie er behauptet hat, er sei in Neapel geboren, ich bitte dich! Und die da - und du zeigst auf die Hübscheste von allen, die mit dem traurigsten Gesicht -, die hat sich das Leben genommen, die Ärmste, nein, den Grund hat man nie herausbekommen. Weitere Fotos von Mädchen, die mit wehenden Röcken fröhlich durch den Regen laufen, von verlobten Pärchen auf dem Fahrrad, sein Gesicht in ihren Haaren vergraben, von Landpartien am Ostermontag, heldenhaft unter Lausbuben ausgetragenen Schneeballschlachten, Geländefahrten, Festen auf der Piazza, Prozessionen und alten Aufführungen der Laienschauspieltruppe, von Kundgebungen und Wallfahrten. Fotos als Band, das uns mit den Mitbürgern verbindet, die in alle Welt verstreut sind; Fotos, die uns sagen, dass sich trotz der Entfernungen, Zeiten und Schicksale zwischen uns eigentlich nichts verändert hat.
Der Fürsprache des Professors war es zu verdanken, dass ich ein paar Monate nach meiner Investitur als sein Lehrling und Assistent auch noch Mitglied der angesehenen Redaktion der Contrada soprana wurde. Ich war der jüngste Mitarbeiter. Vielleicht überließ mir Don Silvestro aus diesem Grund die Spalte »Unter den Zypressen. Unsere in Gottes Frieden Ruhenden«, eine Rubrik, die allseits unbeliebt war, die ich aber ohne Zögern übernahm. Ich verfasste Nachrufe, die, wie ich zu meiner großen Freude erfuhr,
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