Ferne Verwandte
Landkarten und in weit entfernten Bibliotheken aufbewahrte Dokumente -, und die Geschichte ist nach wie vor absolut fesselnd, aber nach ungefähr zwanzig Seiten ist alles zu Ende. Was dann folgt, ist eine Abfolge von Verweisen auf ältere Werke mit Auszügen in Latein, Französisch,
Deutsch, Englisch, Arabisch, ja sogar Aramäisch, und ich verstehe natürlich nicht die Bohne. Zum Glück hat Corelli wieder zu schnarchen begonnen. Ich gehe ihn wecken, und erneut muss ich warten, bis er wieder einschläft. Die Szene wiederholt sich noch viermal, aber dann, beim siebten »Ohrenblasen«, passiert etwas.
»Ich hab’s, ich hab’s!«, jubelt der Meister, und der Gebrauch seines heimatlichen Dialekts verrät eine besondere Gefühlsaufwallung. Er nimmt die Stoffbrille ab und beginnt, immer noch auf der Dormeuse liegend, wie wahnsinnig in seinem tabakfarbenen Notizbuch herumzuschreiben. So geht es ein paar Minuten, dann stößt er einen lauten Seufzer aus, streckt sich und fragt mit einem breiten Grinsen: »Du lachst mich aus, wie?« Er massiert sich die Wange, während ich zaghaft verneine. Darauf erklärt er: »Hör auf. Du kannst nichts dafür. Meine Arbeitsmethode kann einem schon seltsam vorkommen, und sie ist es auch, aber du musst wissen, dass nach der Lehre, die Madame Blavatsky uralten gnostischen Texten entnommen hat, der Moment vor dem Tiefschlaf derjenige ist, der vor Intuitionen nur so strotzt. Tatsächlich handelt es sich weniger um Intuitionen als um regelrechte ›Visionen‹, und die gehen verloren, wenn man richtig einschläft, und es ergeht einem wie einem Fischer, der seine Angel auswirft, aber dann wenn der Fisch anbeißt, nicht darauf gefasst ist. Eine Popularisierung dieser gnostischen Lehre findet sich in der italienischen Redensart: ›Wer schläft, fängt keine Fische‹, deren erste Erwähnung sich übrigens in einem aus unserem Dorf stammenden Dokument aus dem 13. Jahrhundert findet, wie ich in meinem Buch Angeblich fremdstämmige Redensarten und Sprichwörter ausführlich dargelegt habe. Du wirst dich fragen, wie das möglich ist, da wir ja nicht am Meer liegen, aber du weißt eben nicht, dass es hier bis vor zwei Jahrhunderten einen See gab, den Mefito- oder Stinker-See, der groß und sehr fischreich war.«
Er mustert mich beifallheischend, und nachdem er meinen Beifall natürlich erhalten hat, fügt er hinzu: »Um auf meine Arbeitsmethode zurückzukommen, so assistiert mir in der Regel Donna Edgarda, aber ihr tut es weh, mich aufzuwecken« - und er verfällt
wieder in seinen heimatlichen Dialekt - »zumindest behauptet sie das. So sind die Frauen eben. Sie kann sich einfach nicht konzentrieren. Jetzt bist du aber da, und da habe ich, um bei der Metapher zu bleiben, einen guten Fang gemacht, einen wirklich guten Fang.« Dann geht er pfeifend auf eines der Regale zu und zieht einen Band heraus. Weitere Bücher nimmt er aus anderen Stellagen. Hin und wieder ruft er: »Genau!«, »So ist es!«, »Volltreffer!« Und kaum eine Viertelstunde später blickt er von den Büchern auf und sieht mich lächelnd an. Er zündet sich eine Zigarre an, macht es sich auf dem Sessel bequem, nimmt einen tiefen Zug und verkündet zufrieden: »Heute, mein lieber Carlino, bist du Zeuge eines historischen Ereignisses geworden. Auch dank deiner wertvollen Mitarbeit ist die Demologie, von griechisch demos + logia , also die Wissenschaft, die das Volk und seine Bräuche erforscht, um eine neue, außerordentlich bedeutsame Entdeckung bereichert worden. Schon seit Jahren habe ich mich gefragt, was die tiefere Bedeutung des Wortes troccola ist, mit dem wir die Ratschen bezeichnen. Vergeblich habe ich mir den Kopf zerbrochen über die Bedeutung, die ihnen bei der Karfreitagsprozession zukommt, und mich konnte auch die übliche Erklärung nicht zufriedenstellen, der zufolge an jenem Tag zum Zeichen der Trauer über Christi Tod die Glocken schweigen müssen und deshalb die Ratsche, huhuhu , die einzige Möglichkeit sei, die Gläubigen zusammenzurufen. Eine Erklärung, die nicht nur grob funktionalistisch, sondern ein wirklicher Blödsinn ist: Was für eine Notwendigkeit hätte für die Gläubigen denn bestanden, ausgerechnet mittels Ratschen von einer Zusammenkunft zu erfahren, die sich jedes Jahr wiederholt und von der ohnehin alle wissen? Wie mir hingegen diese Texte bestätigt haben«, und er deutet auf den Bücherhaufen, der in prekärer Schieflage auf dem Schreibtisch thront, »ist die troccola - von griechisch trochos ,
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