Fesseln der Gewalt 1
noch in den Träumen. John und Erik bedachten mich mit ihrer Aufmerksamkeit noch Monate, bis sie von den Erziehern abgelöst wurden.
Kälte machte sich in mir breit, der Traum hatte mir mein gepeinigtes Ich zurück gebracht. Müde und ausgelaugt ging ich nach oben. Ein Kaffee würde mir etwas von meinen Lebensgeistern zurückbringen. Mein Blick fiel auf den Zettel, wo meine fast unleserliche Handschrift einen Satz bildete: „Wenn du nicht weg bist, wenn ich wiederkomme, wirst du die Dämmerung nicht mehr erleben!“ Darunter, ganz klein und fast fein, stand in Vinzents Schrift: „Danke!“
Diese s einzelne Wort entzündete ein kleines Feuer in mir, winziger als jede Flamme, die ich je gesehen hatte und doch: Sie brannte!
Ohne Kaffee, dafür mit dem Zettel in der Hand, ging ich ins Schlafzimmer, schloss die Tür und ließ die Welt draußen.
Allein, in innerer Kälte isoliert, stand ich da und hielt die kleine Flamme, in Form eines ordinären Zettels, in meinen Händen.
Indem ich Vinzent gehen ließ, hatte ich einen fatalen Fehler begangen!
***
Ich drehte mich immer wieder um, weil ich jeden Moment damit rechnete, dass Servan mich erneut in seine Gewalt bringen würde. Ich konnte kaum glauben, dass er mich einfach so freiließ, ohne seine Genugtuung erhalten zu haben.
Hatt e die gemeinsam verbrachte, intime Zeit Spuren bei ihm hinterlassen? War mein Plan, ihn mit Zärtlichkeit und Geborgenheit zugänglich zu machen, aufgegangen und entließ er mich deshalb in die Freiheit ? Obwohl sich seine geschriebenen Worte - dass er mich töten würde, wenn ich nicht ginge - harsch anhörten, wurde ich das Gefühl nicht los, dass er mir die Freiheit schenkte, weil ich ihn an seinem wunden Punkt erwischt hatte. Servan besaß nämlich durchaus einen weichen Kern, der sich nach Liebe sehnte, und in der gestrigen Nacht hatte er mich einen kurzen Moment hinter die harte Schale sehen lassen und mir diesen gezeigt. Diese Intimität, die für einen Augenblick zwischen uns herrschte, war auch an mir nicht spurlos vorbeigegangen. Obwohl ich die Misshandlungen weiß Gott nicht vergessen hatte – schließlich war mein ganzer Körper mit den Malen davon übersät – kam ich nicht umhin mir einzugestehen, dass der Sex mit Servan von einer Intensität gewesen war, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte. Und … ich hätte gerne mehr davon gehabt.
Letzteres verunsicherte mich über alle Maßen, denn wenn ich ehrlich zu mir selbst war, dann hatte mich nicht nur der ‚normale‘ Akt mit Servan erregt, sondern auch die härtere Variante, die er mir zwei Tage zuvor zuteilwerden ließ. Hier musste ich mir eindeutig Gedanken über meine Veranlagung machen!
Mittlerweile war ich zuhause angekommen und durchquerte den Vorgarten, um wenig später die Haustür zu öffnen. In der großzügigen Eingangshalle kam mir - kaum dass ich eingetreten war - meine Mutter mit fassungslosem, aber überglücklichem Gesichtsausdruck entgegengerannt und fiel mir um den Hals.
„Oh Vinzent, wo warst du denn ? Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht. Vater hat mir lediglich gesagt, dass du in Schwierigkeiten steckst, nicht aber, worum es sich dabei handelt.“
Noch bevor ich meiner aufgelösten Mutter antworten konnte, kam mein Vater langsam die Treppe hinunter und musterte mich forschend. Ich konnte mich nicht dagegen wehren, Ekel vor meinem Erzeuger zu empfinden, denn Servans Schilderungen drängten sich augenblicklich in mein Bewusstsein. Die Tatsache, dass er meiner Mutter nicht erzählt hatte, dass ich entführt wurde und vor allem weshalb, machte mir klar, dass alle Vorwürfe durchaus der Wahrheit entsprechen konnten. Warum sonst hätte mein Vater ein Geheimnis daraus machen sollen?
Über die Schulter meiner Mutter focht ich mit meinem alten Herrn ein Blickduell aus und erkannt e nicht das erste Mal die Kälte, die seine Augen ausstrahlten.
„Geh und mach für unse ren Jungen erst einmal etwas zu Essen“, forderte er meine Mutter auf, hielt dabei jedoch weiterhin mit mir den Blickkontakt.
Als wir endlich allein im Flur standen, kam er auf mich zu und blieb kurz vor mir stehen. Keiner von uns wandte das Wort an den anderen, bis mein Vater schließlich langsam zu nicken begann.
„Es ist also wirklich Servan, nicht wahr? Und … er hat dir erzählt, woher … er mich kennt.“
Zu einer verbalen Antwort war ich im Moment nicht fähig, nickte deshalb lediglich und blickte ihn weiterhin abschätzend an. Nach einer scheinbar endlosen
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