Fesseln der Sehnsucht
früher kannte, und sparte nicht mit Komplimenten. Lucy, die sich nichts aus belanglosen Schmeicheleien machte, war froh, dass er sie damit verschonte, denn sie hätte es geradezu als Beleidigung ihrer Intelligenz gewertet. Schweigend ließ sie diese geistlosen Gespräche über sich ergehen und fragte sich, welche Gedanken hinter Raines glatter Stirn und ihren silbergrauen Augen lauerten.
Früher oder später würde sich eine Gelegenheit ergeben, in der Lucy mit Raine allein war. Ob Raine dann weiterhin die leichtlebige, gedankenlose Südstaatenschönheit spielen oder ihr den wahren Grund ihrer Reise nach Boston nennen würde? Am Montag verließ Heath zeitig das Haus, um die Redaktion in der Washington Street aufzusuchen. Amy entschuldigte sich und zog sich auf ihr Zimmer zurück. Lucy und Raine saßen allein am Frühstückstisch.
Lucy schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein, gab zwei Löffel Zucker dazu und rührte bedächtig um, während sie ihr Gegenüber aufmerksam musterte. Raine sah entzückend aus in einem pfirsichfarbenen Kleid und mit dem rosafarbenen Samtband im schimmernden Lockenhaar. Raine erwiderte ihren Blick mit einem feinen Lächeln.
Zum ersten Mal waren die beiden Frauen allein.
»Tja, man hat uns beide verlassen«, meinte Lucy, legte den Löffel beiseite und nahm einen Schluck Kaffee.
»Ich bin froh, mit Ihnen allein zu sein. Ich möchte mich noch einmal dafür bedanken, dass Sie Amy und mich so freundlich aufgenommen haben. Ich hoffe inständig, wir bringen Ihren Haushalt nicht zu sehr in Verwirrung.«
Lucy lächelte über den zarten Hinweis der Rivalin. »Seien Sie unbesorgt, Sie bringen uns keineswegs in Verwirrung.«
»Aber ich bitte Sie, seien wir doch ehrlich«, erwiderte Raine mit honigsüßer Liebenswürdigkeit. »Unerwartete Hausgäste sind nun mal lästig. Bald reise ich nach England ab und dann haben Sie Ihr Heim und Ihren Gatten wieder ganz für sich.« Lucy straffte unmerklich die Schultern bei der Anspielung, Raine sei ihr ein unerwünschter Gast. »Sie sind uns willkommen und ich freue mich, dass mein Mann Gelegenheit hat, Zeit mit seiner Schwester und seiner Schwägerin zu verbringen.« Nach einer kurzen Pause, in der sie Raine Gelegenheit gab, den winzigen Hieb zu verdauen, fuhr sie fort. »Wie aufregend für Sie, in England leben zu dürfen.«
»Ich wünschte, ich könnte Ihre Meinung teilen. Aber ein entwurzelter Südstaatler ist im Grunde zu bedauern. Ich kenne Heath so gut, dass ich nicht begreife, wie er hier leben kann.« Ihre klaren grauen Augen erforschten Lucys Gesichtszüge. »Sie hätten ihn sehen sollen, als er die Plantage wieder sah … Er ließ den Blick schweifen, atmete die Luft in tiefen Zügen ein und sagte, wie wunderbar er sich fühle, die Sonne wieder zu spüren. Armer Heath, ich habe ihn nie so bedrückt gesehen. Er sah so hager und kränklich aus. Doch schon nach einer Woche in Virginia war er wieder ganz der Alte. Meine Mutter pflegte immer zu sagen, ein Südstaatler kann nur im Süden glücklich sein. Ich weiß nicht, was Heath dazu bewogen hat, in den Norden zu ziehen. Hier oben versteht ihn doch keiner.
Damit will ich nicht sagen, dass Sie ihn nicht glücklich machen … er ist ganz verrückt nach Ihnen. Wenn jemand ihn hier im Norden glücklich machen kann, dann Sie.«
»Er fühlt sich sehr wohl in Boston.« Lucy hatte Mühe, einen gleichmütigen Plauderton beizubehalten. »Er ist im Begriff, eine große Karriere zu machen. Seine Bemühungen mit dem Examiner sind sehr erfolgreich.«
»Ach … diese Zeitung. Damit verwirklicht er nur den Traum seines Vaters. Aber ich hoffe, es gelingt ihm, eines Tages seine eigenen Träume zu verwirklichen.«
»Nun, er scheint sehr zufrieden zu sein mit dem, was er bisher erreicht hat.«
Raine senkte befangen den Blick. »Ich wollte damit nicht unterstellen, dass er unglücklich ist. Natürlich ist er glücklich. Natürlich.«
Raines Tonfall irritierte Lucy; sie redete mit ihr wie zu einem Kind, das Trost brauchte. Etwas von ihrem Ärger musste Lucy im Gesicht geschrieben gewesen sein, denn Raine schenkte ihr ein liebreizendes Lächeln, verbunden mit einem deutlichen Anflug von Genugtuung.
Lucys Gedanken rasten, als sie nach den passenden Worten suchte, mit denen sie Raine zu verstehen geben konnte, dass sie mit Heath verheiratet war und die Absicht hatte, es zu bleiben. Ich bin seine Frau. Daran wirst du nichts ändern, so sehr du es dir auch wünschst. Und wenn du ihn je so gut gekannt hättest, wie
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