Fesseln der Sehnsucht
mich an ihr zu rächen. Doch meine Gefühle haben sich mit den Jahren verändert. Heute verstehe ich, warum sie es getan hat. Ich begriff damals nicht, wie machtlos und abhängig Frauen sind … Raine traf die für sie richtige Entscheidung. Sie hatte keine andere Wahl. Mit seinem Namen und seinem Reichtum war Clay in der Lage, sie zu versorgen, wie ich es nie vermocht hätte.«
»Du nimmst sie auch noch in Schutz! Sie war nicht gezwungen, Clay zu heiraten. Sein Name, sein Geld, sein Familie hätten nicht den Ausschlag geben dürfen …«
»Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet du ihr Vorwürfe machst. Du hättest Daniel aus den gleichen Gründen geheiratet.«
»Da ist nicht wahr!« Lucy stockte der Atem vor Entrüstung. »Ich habe Daniel geliebt.«
»Tatsächlich?« Heath schüttelte bedächtig den Kopf und lächelte müde. »Es ist nicht mehr wichtig. Im Lager, sind mir schließlich die Augen aufgegangen. Auf Governor’s Island habe ich eine Menge gelernt, vor allem habe ich gelernt, was es bedeutet, hilflos zu sein. Ich war der Willkür anderer ausgeliefert und musste mich meinem Schicksal fügen. Ich versuchte das Beste daraus zu machen, aber letztlich war ich hilflos, zum ersten Mal in meinem Leben. Raine erging es nicht anders. Und dir auch.«
»Ich bin nicht hilflos!«
»Nein, nicht mehr. Du hast dich verändert. Aber Raine hat sich nicht verändert. Sie ist immer noch hilflos.«
»Wieso ist es ausgerechnet deine Aufgabe, sie zu beschützen? Willst du sie den Rest ihres Lebens versorgen?«
»Nein. Sie wird bald jemanden finden, der sich ihrer annimmt. Darauf versteht sie sich. Ich bitte dich lediglich, sie ein paar Tage bei uns aufzunehmen. Es ist nicht für immer.«
»Du gehst vermutlich wie üblich ins Büro?« Heath nickte knapp und Lucy stieß einen verächtlichen Laut aus. »Das dachte ich mir. Sag mir bitte, was ich mit Raine anfangen soll. Was soll ich mit ihr reden? Wie kann ich sie ansehen, mich mit ihr unterhalten, wenn ich ständig daran denken muss, dass du tagelang im Fieberwahn nach ihr geschmachtet hast?«
»Zwischen mir und Raine ist nichts, vergiss das nicht«, entgegnete Heath leise und eindringlich. »Seit Jahren nicht mehr. Und vergiss nicht sie hat in den letzten Jahren die Hölle auf Erden durchlebt. Während du behütet in Concord im Geschäft deines Vaters mit den Kunden gelacht und gescherzt hast, stand sie Todesängste vor den Yankee-Soldaten aus, die brandschatzend und plündernd durchs Land zogen, Frauen vergewaltigten und umbrachten. Sie hat vor kurzem ihren Mann zu Grabe getragen und musste zusehen, wie aus Freunden und Nachbarn Todfeinde wurden über die Frage der Reconstruction, ein Thema, über das ihr hier im Norden bei Tee und Gebäck plaudert. Wenn du dich in Selbstmitleid ergehst, denke bitte daran.«
»Sie kann sich glücklich schätzen«, entgegnete Lucy mit kalt funkelnden Augen, »dich zu haben, der sie vor mir in Schutz nimmt.«
Fluchend fuhr Heath sich durchs Haar und goss sich einen zweiten Whiskey ein.
»Aber vielleicht ist es gar nicht so schwierig, ein Gesprächsthema zu finden. Sie und ich haben ja viel gemeinsam.
Nicht wahr, Heath?« Sie starrte ihn an, bis er das Glas absetzte und ihren Blick erwiderte.
»Was willst du damit sagen?«
»Raine und ich haben schließlich dich gemeinsam, Heath.« War das wirklich ihre Stimme, die so gehässig und schrill klang? »Fragt sich nur, wie? Wie gut hast du sie gekannt? So gut wie mich? Wart ihr ein Liebespaar?«
Er sah sie an wie eine Fremde. »Wie kannst du so etwas fragen!«
»Wart ihr ein Liebespaar?«
»Wenn dir das so wichtig ist kannst du zur Hölle fahren!«
»Wart ihr ein Liebespaar?«, flüsterte sie.
»Nein«, antwortete er schneidend. So aufgebracht hatte sie ihn nie zuvor gesehen. »Nein. Nicht damals und nicht heute.«
»Hör auf, mich so hasserfüllt anzusehen. Du hast dir das alles selbst zuzuschreiben. Du hast sie in unser Haus gebracht. Also mach mir keine Vorwürfe, wenn ich Fragen stelle.«
»Du bist unmöglich«, erwiderte er kalt. »Ich frage mich, wieso ich je denken konnte, du solltest härter werden.«
»Wäre es dir lieber, wenn ich … hilfloser wäre?«
Lucy wusste, dass sie zu weit gegangen war. Heath wandte ihr den Rücken zu und ballte die Fäuste. Er war so wütend, dass er nicht klar denken konnte. Lucy bekam es mit der Angst zu tun und machte sich daran, das Zimmer zu verlassen. An der Tür drehte sich sie um und bückte auf seine versteiften
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