Fesseln der Sehnsucht
ich ihn kenne, hättest du ihn nie aufgegeben, um Clay zu heiraten. Mit diesen Gedanken gewann sie einen Teil ihres Selbstvertrauens wieder. »Es ist verständlich, dass Sie sich um Heath’ Wohlergehen sorgen«, sagte sie. »Schließlich sind Sie seine Schwägerin.«
»Und ich kenne ihn seit Jahren.«
»Aber Sie wissen nichts über sein heutiges Leben. Dieses Leben ist genau das, was er sich immer gewünscht hat.
Er verwirklicht seine eigenen Träume, nicht die eines anderen. Neue Träume. Alte Träume hat er längst überwunden und vergessen.«
Raines Lächeln schwand. »Manche Dinge vergisst man nie.«
Die Fronten waren abgesteckt. Lucy trug eine der härtesten Schlachten ihres Lebens beim Frühstück aus, kämpfte erbittert mit sorgfältig gewählten und höflich gesprochenen Worten.
»Er wird immer ein Südstaatler bleiben«, beharrte Raine sanft.
»Aber nicht nur. Sein beruflicher Erfolg ist zu einem guten Teil auf seine Wandlungsfähigkeit zurückzuführen. Er hat die Gabe, sich zu verändern, und inzwischen hat er auch etwas von den Denkweisen eines Nordstaatlers angenommen.« Bei aller Ernsthaftigkeit des Gesprächs musste Lucy ein Schmunzeln unterdrücken, als sie sich so reden hörte. Heath hätte einen Lachanfall bekommen, wäre er Zeuge dieser Unterhaltung gewesen.
»Wenn es Sie zufrieden stellt, so zu denken.« Raines Stimme zitterte merklich. »Vielleicht haben sie in gewisser Weise Recht. Aber Sie können nicht wirklich wissen, was er sich wünscht. Er befindet sich im Augenblick zwischen zwei Welten und ich weiß, in welche er gehört; eines Tages wird er in seine Welt zurückkehren.«
»Wenn das eintrifft, bin ich an seiner Seite.« Lucy sah Raine unverwandt in die Augen. »Ich folge Heath, wohin auch immer er geht.«
»Sie werden nicht in seine Welt passen, nie, auch nicht in hundert Jahren.« Plötzlich verlor Raine die Beherrschung, ihre Stimme war spitz und voller Geringschätzung. »Wie haben Sie es eigentlich geschafft, ihn zu heiraten? Sie sind völlig anders als die Frauen, die er bislang kannte. Er hat sich nie für Frauen wie Sie interessiert.«
»Bis er den Entschluss fasste zu heiraten.«
Raine verschlug es die Sprache. Sie blickte lange in Lucys schmales, entschlossenes Gesicht und dann wich jeder Ausdruck aus ihren Zügen, als sei ein Vorhang vorgezogen worden. »Bitte verzeihen Sie, Lucinda. Ich habe die Beherrschung verloren … ich rede dummes Zeug. Clays Tod hat mich sehr mitgenommen und verstört. Ich habe mich vergessen.« Lucy nickte knapp, schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Raine folgte zögernd ihrem Beispiel.
»Wir wollen dieses Gespräch vergessen. Sie werden doch mit niemandem darüber sprechen, hoffe ich.«
»Nur, wenn es nötig sein sollte.«
Raine nagte an ihrer Unterlippe, wirkte hilflos und verloren. »Verzeihen Sie meine Worte. Selbst ein Narr sieht, dass Sie Heath eine gute Frau sind.«
»Es gibt nichts zu verzeihen«, erwiderte Lucy, der angesichts Raines reuiger Zerknirschung nichts anderes übrig blieb, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Oh, könnte sie nur aussprechen, was sie wirklich dachte! »Sie haben eine schwere Zeit hinter sich. Es muss ein furchtbarer Schlag sein, den geliebten Gatten zu verlieren.« Lucy legte eine absichtsvolle Pause ein, ehe sie hinzufügte: »Allein der Gedanke an Ihren Verlust lässt mich das, was ich habe, umso mehr schätzen.«
»Es freut mich zu hören, dass Sie Heath schätzen. Er ist ein ganz besonderer und wertvoller Mann.«
»Wie Amy mir sagte, waren auch Sie mit einem sehr wertvollen Mann verheiratet.«
»Ja. Clay war wunderbar.« In Raines Zügen war keine Gefühlsregung zu lesen.
»Clay und Heath standen einander früher sehr nah. Doch der Krieg hat beide verändert. Ihre Wege trennten sich zu unser aller Erstaunen.«
Lucy rieselte ein Frösteln über den Rücken bei dem merkwürdig silbrigen Leuchten in Raines Augen. Sie nickte knapp und wandte sich zum Gehen. Lucy wäre noch weit mehr beunruhigt gewesen, hätte sie das Lächeln gesehen, das Raines schön geschwungenen Mund umspielte.
Die Situation stellte Lucy auf eine noch härtere Probe, als sie befürchtet hatte. Sie sehnte sich danach, mit Heath allein zu sein, doch ihre Gäste nahmen ihn für sich in Beschlag. Das Ehepaar hatte kaum zehn Worte miteinander gewechselt, seit er am Abend nach Hause gekommen war. Als man sich zur Ruhe begab, ging Lucy noch in die Küche und besprach die Speisenfolge des nächsten Tages, ehe sie sich
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