Fesseln der Sehnsucht
persönlich nach Boston zu begleiten.
Während der beiden Nächte, in denen Heath fort war, schlief Lucy auf seiner Seite des Bettes, grub das Gesicht in sein Kopfkissen und zog den männlichen Duft ein, der ihm entströmte. Es überraschte sie, Heath so sehr zu vermissen. Um nicht ständig an ihn denken zu müssen, widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit dem bevorstehenden Umzug. Es fiel ihr nicht leicht, das kleine Haus zu verlassen. Zum ersten Mal kehrte sie ihrer Heimatstadt den Rücken, in der sie aufgewachsen war. Vor ihr lag ein neues Leben, eine Zukunft, die undeutlich und verschwommen war. Sie wusste nur eins: Sie wollte dort sein, wo Heath war. Ohne ihn waren Concord und das kleines Haus verödet.
Ihr Vater mietete eine geschlossene Kutsche, um sie in die Stadt zu bringen. Die Kisten, Truhen und Koffer wurden auf ein Fuhrwerk geladen, das einer der Hosmer-Söhne für einen Dollar hinter ihnen her fuhr. Lucy arf keinen einzigen Blick zurück, als sie Concord hinter sich ließen, stattdessen starrte sie auf das feine, Spitzentüchlein in ihrer Hand, mit dem sie sich gelegentlich die Augen betupfte. Sie ließ ihre Kindheit hinter sich und mit jeder zurückgelegten Meile wurde ihr das Herz schwerer.
Als sie sich Boston näherten, nestelte Lucy nervös an ihrem Kleid herum. Kein Fältchen, keine Schleife sollte schief sitzen, wenn sie der Kutsche entstieg. Heath hatte einen aufmerksamen Blick für ihre Kleidung.. und heute wollte sie besonders hübsch aussehen. Der Überrock ihres Reisekleids aus feiner silbergrauer Wolle war seitlich gerafft und mit farblich abgestimmten Seidenfransen besetzt. Darunter kam ein dunkelgrauer Seidenrock zum Vorschein. Die Keulenärmel verjüngten sich schmal bis zu den Gelenken. Sie trug ein flaches, mit einem Samtband verziertes Hütchen, dessen satinierte, farblich zum Kleid abgestimmte Strohkrempe tief in die Stirn gesetzt war.
Auf der Fahrt durch Boston hatte Lucy einen guten Blick auf Beacon Hill, den Stadtteil, der nach dem alten Leuchtturm aus dem 17. Jahrhundert benannt war, der die frühen Siedler vor einem feindlichen Angriff warnte. Auf Beacon Hill, vor allem in der Gegend um den Louisburg Square, residierten die angesehensten Familien von Boston. Diese Familien, die Creme de la Creme lebten in einer eigenen Welt. Ihre Namen – Lodge, Cabot und Peabody, um nur einige zu nennen – waren mit den Namen der Hocharistokratie in Europa gleichzusetzen.
Reichtum und Ansehen dieser Familien waren vor langer Zeit von ihren Vorvätern begründet worden. Manche, wie die Forbeses und die Gardbers, hatten ihr Geld im Überseehandel und später mit Eisenbahnen gemacht, während andere, wie die Winthrops, die Lowells und die Redmonds, in der Textilindustrie und im Bankenwesen tätig waren.
Es gab eine zweite, ebenso hoch gestellte Gesellschaftsschicht – von den ersten Familien allerdings mit Herablassung bedacht –, Familien mit viel Geld, jedoch ohne den Dünkel der alten Familien: die Klasse der Unternehmer, der Geschäftsleute, die alles daran setzten, um Boston im raschen Tempo zu einer bedeutenden Industriemetropole erblühen zu lassen. Ihnen war es zu verdanken, dass Boston zum Paradebeispiel wirtschaftlicher Blüte wurde, und sie reisten mit der Bahn zwischen New York und Boston hin und her, um ihre Geschäfte mit der Durchsetzungskraft und Skrupellosigkeit von Piraten zu betreiben. Ihr Geld war neues Geld, das sie mit vollen Händen ausgaben, Geld, mit dem sie sensationelle Feste veranstalteten, die besten Logenplätze im Theater und in Konzertsälen besetzten, Modegeschäfte und Warenhäuser frequentierten und in den besten Restaurants speisten.
Alte Familien mieden die Öffentlichkeit, während die neuen Unternehmer, die Emporkömmlinge, es liebten, im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen. Sie waren von unbefangenem Stolz auf ihren Erfolg erfüllt, jovial, herzlich und voller Energie, prahlten gelegentlich auch derb damit, dass es wenige Dinge auf der Welt gab, die sie sich nicht leisten konnten. Die Forbeses, Redmonds und all die anderen ersten Familien der Stadt verheirateten ihre Söhne und Töchter gern mit den Erben der Emporkömmlinge, um elitäre Namen mit imposanten Vermögenswerten zu verbinden.
Als die Kutsche die hohen, stuckverzierten Fassaden der Stadthäuser zwischen Louisburg Square und Mt. Vernan Place passierte, kam Lucy der Gedanke, dass sie mit einem Emporkömmling verheiratet war. Eigentlich eine seltsame Kombination, der liberale
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