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Fest der Fliegen

Fest der Fliegen

Titel: Fest der Fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Heidenreich
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jetzt selbst vor. Oder willst du lieber erst zu deinen Bildern? Sie sehen traurig aus.« »Nein. Ich will nur wissen, wo Martina ist. Oder was er –« »Wir wissen noch gar nichts. Denk nie an das Schlimmste, weil es dich blockiert. Das hast du mir selbst mal gesagt.«
    »Nimm dieses Herz in deine Hände. Es sind die Schmerzen der Jungfrau Maria.« Während der Mönch ihr das kühle, silberne Herz, das von sieben Schwertern durchbohrt war, in den Schoß legte, versuchte Martina, sein Gesicht zu erkennen. Doch es war wie bei den beiden anderen von der großen Kapuze der dunkelblauen Kutte so tief verschattet, dass keine Augen und keine Kopfform sichtbar waren. Sie saß im ersten Stock der alten Mühle, in der ehemaligen Bibliothek von Peter Gottfreund. Man hatte sie in seinen wuchtigen Lehnsessel gesetzt. Sie bemühte sich, klar zu denken. Ihr Kopf war zugleich dumpf und rasend, zu keinem Gedanken fähig und erfüllt von einem Karussell aus Überlegungen, die sich so schnell ablösten, dass sie keine davon lesen und begreifen konnte. Wenn sie glaubte, sich auf den Augenblick konzentrieren zu können, verschob sich, was sie erkannt hatte, ins Ungewisse. War sie in einem Traum? Sah sie, was sie sah? Sie war als Mädchen oft hier gewesen. Ihre Busenfreundin Johanna und sie hatten den alten Sonderling besucht, der sie mit den Hasen und kleinen Ziegen spielen ließ. Wenn es regnete, las er ihnen etwas vor, hier oben hockten sie auf Kissen neben seinem Sessel am Boden, er setzte die Brille auf, suchte aus den umlaufenden Regalmetern ein Buch aus und begann vorzulesen. Es machte ihnen nichts aus, dass er immer ein bisschen nach Ziegenstall stank. Gottfreunds Stimme war für sie die einzige Märchenstimme auf der Welt. Jetzt fühlte sie sich in seinem Sessel gefangen, die Mönche im Raum hatten doppelte Konturen, schwammen wieder in eine Gestalt zusammen. War das Silberherz Wirklichkeit? Sie kannte es. Sie nahm es in ihre Hände, spürte die kalte Glätte des Metalls und sein Gewicht. Ja, es war das Marienherz aus der Hedwigskirche. Es war dort im Schrein über der Brust von Maria zu sehen. Wie kam es in die Hände der Mönche? Und warum saß sie hier? Sie versuchte, sich zu erinnern, aber es gelang ihr nicht. »Du hast lange geschlafen, meine Tochter. Sorge dich nicht. Du bist nun aufgenommen in den Orden der Engel, Legio Angelorum, und unsere Gebieterin hat ihre schützenden Hände nach dir ausgestreckt. Bete zu der heiligen Martina, dass sie dich auf den Weg des Heils führt. Gott hat sie errettet, wie er auch dich erretten wird.« Der zweite Mönch trat vor sie hin und nahm ihr das Herz aus den Händen. Sie starrte auf seine Kutte. Der schwarze Gürtel erinnerte sie an eine Schlange, die sie damals mit Johanna im nassen Gestrüpp entdeckt hatte. Sie waren schreiend davongelaufen, und Peter Gottfreund war mit ihnen zusammen zu der Stelle zurückgegangen.
    »Harmlos«, hatte er erklärt. »Sie tut nichts, ist nicht giftig und sie gehört eigentlich auch nicht her. Ist lieber im Wald. Wollte wohl spazieren gehen.« Johanna hatte gelacht, Martina sich noch bis in den Schlaf gefürchtet. Langsam sah sie klarer. Auch wenn es der winzigen Fenster des Raums wegen dämmrig war, nahmen die beiden Mönche vor ihr und der dritte am düsteren Ende der Bibliothek fest umgrenzte Formen an, die Bücherrücken in den halbhohen Regalen hoben sich jetzt einzeln voneinander ab. »Ich habe Durst.« Der eine wandte sich zur Tür, lief die Treppe hinunter. Der andere hielt das Silberherz fest. Sie holte tief Luft und sagte langsam und deutlich: »Ich möchte nach Hause gehen.« Der dritte, der wie ein Schatten im Hintergrund an der Wand lehnte, lachte leise. Sie versuchte aufzustehen. Ihre Beine gehorchten nicht. Sie stützte sich auf die Sessellehnen und ihr Blick fiel auf die nackte Unterarmbeuge, den mit einem gelben Pfropfen verschlossenen Venenkatheter, der mit Mullkompressen und weißem Heftpflaster fixiert war. Jetzt erst wuchs langsam die Angst. Mit einem Glas Wasser in der Hand kam der Mönch, der zu ihr gesprochen hatte, zurück. Er reichte es ihr und sie trank das Glas ganz aus. Ihr Bewusstsein begann wieder tätig zu werden. Man hatte sie betäubt und hierher verschleppt. Man hielt sie gefangen. Wozu? Das waren doch Mönche und keine Verbrecher! Sie versuchte es noch einmal, auch wenn die Zungenbewegung mühsam war: »Helfen Sie mir aufzustehen. Ich muss nach Hause. Also beenden wir das hier.«
    Wieder lachte der im Hintergrund.

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