Fest der Fliegen
denen von Martina Matt. Sie haben zwei gute Motive, Herr Sinzinger: Sie wollen Ihren Vater rächen. Und Sie wollen jetzt nach seinem Tod möglichen Erbansprüchen seiner Tochter Ilse und seiner Enkelin Martina zuvorkommen! Sagen Sie uns endlich: Wo ist Frau Matt? Ihr Schweigen macht alles schlimmer, verstehen Sie denn nicht! Noch haben Sie die Chance auf Zusammenarbeit mit uns. Wo ist Martina Matt?!« Xaver Sinzinger schwieg. In seinem Kopf hallten die Sätze Klantzammers nach, ohne Sinn zu haben. Er bezweifelte nicht, dass der Kriminalrat sagte, was er dachte oder herausgefunden hatte; aber all das hatte mit ihm nicht das Geringste zu tun. Er begriff nicht, wieso er überhaupt hier war. Im Beobachtungsraum schlug Swoboda mit der Faust auf das Fensterbrett vor dem Einwegspiegel und brüllte: »Was hast du mit ihr gemacht, du Schweinehund?!« Seine Stimme war so laut, dass Sinzinger sie im Vernehmungsraum hörte. Er erkannte sie. Sie war ihm vertraut wie die eines Bruders. Swoboda war im Sinzingerhaus aufgewachsen. Sie hatten, wenn auch im Abstand von vier Klassen, gemeinsam das Ludwigsbühler Gymnasium besucht, Alexander hatte Xaver Nachhilfe in Latein gegeben und manchmal hatte Xaver Alexander als seinen großen Bruder ausgegeben. Dann war der Brauerssohn ins Internat gekommen und Alexander hatte die Stadt zum Studium verlassen. Xaver war gehorsam dem Weg gefolgt, den sein Vater ihm vorgab, aber er hatte nicht den Wunsch, den alten Mann zu schützen. Ihm war seit Langem klar, dass der Despot, der die Familie und die Belegschaft der Brauerei tyrannisierte, in der Nazizeit Menschen getötet hatte; und dass die jüngste Tochter, seine Schwester Ulrika, zwei Selbstmordversuche wegen des Vaters unternommen hatte und seinetwegen noch immer in der Klinik Henneburg für psychisch Kranke hilflos ihr Leben verstreichen ließ. Dass der älteste Bruder Karl so weit wie möglich weggezogen war und inzwischen in Kasachstan und Goa mehrere Brauereien besaß. Als er in dem Gebrüll hinter dem Spiegel Swobodas Stimme erkannte, stand Xaver auf. »Alex, ich schwöre dir: Ich habe mit all dem nichts zu tun. Du weißt, ich bin nicht wie mein Vater. Ich glaube, die Sippenhaft ist abgeschafft.« Swoboda stöhnte. Ja, die Sippenhaft war abgeschafft. Seit über sechzig Jahren. Ihm war bewusst, dass Xaver Sinzinger nichts von dem getan hatte, was Klantzammer ihm vorwarf. Alles stimmte gut zusammen. Die Indizien. Die Motive. Zu gut. Eine gelegte Spur. Aber wenn er Sinzinger laufen ließ, gab es keinen einzigen Anhaltspunkt mehr. Wo sollte er nach Martina suchen? Er drückte die Sprechtaste: »Lasst ihn gehen.« »Was?«, fragte Klantzammer zurück. »Gehen. Er soll gehen. Er soll einfach gehen.« Swoboda sah Klantzammer den Zorn an, als der Kriminalrat ins Beobachtungszimmer zurückkehrte. Er blieb am Tisch sitzen und schwieg. Klantzammer ging zum Fenster, sah hinaus, lehnte sich vor, stützte seine Hände aufs Fensterbrett. Als er mit der Nase fast am Glas war, sprach er endlich und nahm sich mit dem Niederschlag seines Atemhauchs auf der Scheibe die Sicht nach draußen. »Seit wann ist es üblich, derart in eine Vernehmung einzugreifen, dazu noch unmittelbar vor ihrem Erfolg. Er war weichgekocht, er hätte gestanden.« »Nichts hätte er gestanden. Er hat nichts zu gestehen«, sagte Swoboda.
»Na, wenn du so sicher bist! Ich dachte, es sei dir wichtig zu wissen, wo Martina ist.« »Er weiß es nicht.« Klantzammer drehte sich um und sah zu ihm her. »Deine Nase, ja? Aber ich weiß, dass alle Spuren ihn überführen.« Swoboda stand auf, lief langsam die wenigen Schritte ans Fenster, stellte sich neben den Kriminalrat und blickte hinaus auf den leeren Burgweg. »Erinnerst du dich an den Fall Braunstein, wo jedes Indiz zweifellos auf den einzig möglichen Täter deutete?« »Seinen eigenen Sohn, ich weiß noch, wie du dich verbissen hast.« »Ja. Es passt alles zu gut. Wie damals. Perfekt. Das hat jemand ausgearbeitet. Wie im Fall Braunstein die Mutter, der wir das nicht zugetraut haben.« Der Kriminalrat schwieg. Sein einstiger Kollege hätte den damaligen Fall gar nicht erwähnen müssen. Ihm war klar, dass er sich verrannt hatte. Er wusste auch, warum. Weil es um Swoboda und Martina ging. Er ertrug es nicht, ihnen nicht helfen zu können. »Ich war zu eifrig. Du hast recht. Ilse Matt ruft jede Stunde an. Scheiße.« Klantzammer drehte sich um und sah neben Swoboda hinaus in den Abenddunst über der Altstadt. »Du wolltest mich beruhigen.
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