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Fest der Fliegen

Fest der Fliegen

Titel: Fest der Fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Heidenreich
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in Edinburgh im Bauch der Tartan Weaving Mill an den Webstühlen vorbeigerannt und seinen Verfolgern entkommen war, hatte das Geräusch der Maschinen ihn begleitet. Tag für Tag hatten sie zwischen seinen Schläfen ihren Stoff mit Kette und Schuss vorangespuckt, Tartans aus blauen und grünen Quadraten mit roten Trennlinien, die sich über sein Gehirn schoben. Erst wenn das Muster seine Gedanken ganz überdeckt hatte, stand der Webstuhl still und Domingo konnte einschlafen. Doch wenn er erwachte, erwachte auch die Maschine, begann wieder mit ihrem eisernen Keuchen und erinnerte ihn an den Mann, den er im Auftrag der Inquisitio Haereticae Pravitatis getötet hatte. Als der ehemalige britische Premierminister Tony Blair zum Katholizismus konvertierte, setzte in England eine öffentliche Diskussion über die Haltung des Vatikan zum Judentum ein. Im Zuge dieser, sich durch anglikanische Einmischung verschärfenden Auseinandersetzung erklärte der einundfünfzigjährige katholische Pfarrer Lucius Mawhiney aus dem Bistum Paisley im schottischen Fernsehen: Was den Juden im 20. Jahrhundert angetan worden war, sei viel schlimmer als die Mitwirkung einiger Juden an der Verurteilung Jesu Christi. Als wenig später der britische Piusbruder Richard Williamson öffentlich den Holocaust leugnete, war es wieder Mawhiney, der ihm in der Presse heftig widersprach: Nicht der Ruf des Pöbels »Kreuzige ihn!« sei eine Sünde gegen Gott gewesen, sondern der Massenmord an den Juden in den deutschen Konzentrationslagern und durch die Pogrome im Osten. Dass Jesus und Maria dem nicht Einhalt geboten hatten, mache weiß Gott – »heaven knows«, wie er wörtlich sagte – Zweifel an ihrer Güte sehr begreiflich. Wer Derartiges glaubte und öffentlich verkündete, geriet zwangsläufig auf die Häretiker-Liste der Inquisition: Solche Irrlehren, zumal von einem Diener der Kirche, waren Dolche im Herzen Mariae. Der Tod des Gottesfeindes konnte ihren Schmerz nicht heilen. Doch er verhinderte die Wiederholung der satanischen Ansichten. Domingo hatte mit Freude zugestimmt, als Petrus Venerandus ihn für die gerechte Hinrichtung erwählte, und den Gotteslästerer eine Woche lang in Paisley beschattet. Er scheute sich, den Pfarrer in seiner Kirche, Mirin’s Cathedral, zu töten, wartete auf eine Gelegenheit und entschloss sich zu handeln, als Father Mawhiney mit einer Pilgergruppe in einem Bus der Scottish City Link nach Edinburgh fuhr, um in St. Mary’s Cathedral am Picardy Place die Abendmesse zu lesen. Am Mittag hatten sich die Pilger vor dem Edinburgh Castle um eine Führerin für das Sightseeing-Programm versammelt, als Domingo sah, dass Mawhiney sich von der Gruppe entfernte. In diesem Augenblick schlug er zu. Scham und Schuldgefühl, die ihn nach der Hinrichtung des Geistlichen quälten, wurden nicht von Skrupeln genährt, sondern von Selbstvorwürfen: Er hatte Fehler gemacht; den falschen Platz für die Hinrichtung gewählt; nicht bedacht, dass er von Besuchern der Camera Obscura gesehen werden konnte; einem der Verfolger sein Gesicht gezeigt. Er hatte die Engelslegion in Gefahr gebracht und glaubte, untertauchen zu müssen, um nicht noch mehr Schaden anzurichten. Seine Flucht endete in Südspanien, in Almería. Auf Europas größtem Sklavenmarkt unserer Tage wartete er mit Tausenden Tagelöhnern vor den Gewächshäusern der Patrones auf seine Anwerbung als Erntehelfer. Er reihte sich ein zwischen die Immigranten aus dem Maghreb, die Flüchtlinge aus Mali und Mauretanien, die keine Papiere vorzuweisen hatten. Auch von ihm verlangte niemand einen Ausweis. Ein Patron stellte ihn unter seinem bürgerlichen Namen Vincent Menendez ein. Sein Sklavendasein im Mar de Plástico , dem Plastikmeer der Gewächshäuser von Almería, und im Dunst der Pestizide empfand er als verdiente Strafe. Langsam verlor sich das Geräusch der Webstühle hinter seiner Stirn. Nachts, wenn er versuchte, in einem aufgelassenen, ehemaligen Schweinestall Schlaf zu finden, dachte er an seine Brüder in der Engelslegion, erträumte sich Begegnungen mit Petrus Venerandus, und seine Sehnsucht nach Vergebung wuchs. Je länger er ohne Absolution lebte, umso heftiger quälte ihn die Furcht, im Kampf zur Rettung des Glaubens versagt zu haben. Er betäubte sich mit billigem spanischem Brandy. Einem der Patrones war sein schönes Gesicht aufgefallen und er hatte ihn zum Vorarbeiter in einem Komplex von zwei Gewächshäusern ernannt, in denen Paprikaschoten gezogen wurden. Er bekam

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