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Fest der Fliegen

Fest der Fliegen

Titel: Fest der Fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Heidenreich
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fuisse copore et anima caelestem gloriam assumptam.« Johanna Nothdurft hatte auf den Zettel gestarrt, den man auch an sie verteilt hatte, und das »von Gott geoffenbarte Dogma« mitgelesen: »Dass die immerwährende Jungfrau Maria, die makellose Gottesgebärerin, als sie den Lauf des irdischen Lebens vollendet, mit Leib und Seele zur himmlischen Glorie aufgenommen wurde.« Und Cloudesley Burton, der ebenso wenig wie Johanna des Lateinischen mächtig war, hatte auf seinem Zettel die Passage, die das Dogma beschloss, mit Ernst und Furcht gelesen: »Hence if anyone, which God forbid, should dare willfully to deny or to call into doubt that which We have defined, let him know that he has fallen away completely from the divine and Catholic faith.« Doch wer sollte hier zweifeln, wer vom Glauben und von der Kirche abfallen? Die Masse der Gläubigen hatte sich vor Glück und Freude kaum zu fassen gewusst. Im Gewoge des Jubels trafen sich, als seien sie aufeinander hingelenkt worden, die Blicke von Johanna aus Regensburg und Cloudesley aus Cobh. Früher wären beide den Augen des anderen gleich wieder ausgewichen. Diesmal, in der allgemeinen Höhe des Gefühls, konnten oder wollten sie ihre Blicke aushalten und vergaßen sich für ein paar Sekunden zu lange ineinander. Mehr aus Verlegenheit lächelte Cloudesley und kam ihr nah. Johanna spürte, dass dieses Lächeln ihr vollends unmöglich machte, von seinem Gesicht abzusehen. Er wollte Einverständnis herstellen und plapperte nach, was eben verkündet worden war: »Assumed body and soul!« Johanna verstand, antwortete: »Aufgefahren.« »Ouffgäjfahron«, bemühte sich Cloudesley. Und Johanna antwortete »Essummt.« Ein ungewöhnlicher erster Liebesdialog, doch führte er zur Ehe der beiden und zur Geburt von Leicester Burton. Dass die sich im Jahr 1954 ausgerechnet am 15. August ereignete, an eben jenem Tag, an dem die Muttergottes zum Himmel gefahren war, und das seit vier Jahren laut päpstlichem Dogma »ganzleiblich«, konnte Leicesters Mutter Johanna nur für eine Fügung der Dreifaltigkeit halten. Fortan beging sie, wie seinerzeit als Regensburger Mädchen eingeübt, die Frauendreißiger , jene dreißig Tage bis zu Mariae Namen am 12. September: Sie lief über die Wiesen um Cork und sammelte blühende Kräuter, weil ihnen in dieser Zeit eine besondere Heilkraft eigen war. Ihren kleinen Jungen nahm sie an der Hand auf ihre Wege mit. »Die heilige Muttergottes hat uns hier in Irland besonders lieb«, sagte seine Mutter. »Sie hat eine besondere Botschaft für uns: Tut, was ich euch sage, und es wird Friede sein . Daran müssen wir glauben, Leicester!« So erzählte sie ihm fortwährend von der jungfräulichen Himmelskönigin und »Siegerin in allen Schlachten Gottes«.
    Die schützte nicht. Leicester war erst elf Jahre alt. An einem sonnigen, trockenen Novembertag wurden Johanna Burton, geborene Nothdurft, und ihr Mann Cloudesley auf dem Weg zur Fähre nach Cork in ihrem kleinen Vauxhall Wyvern dort, wo die R623 nicht weit von Glanmire die Eisenbahnlinie quert, von einem Güterzug erfasst. Die Polizei kam zu Burton nach Hause und übergab ihm ein Marienmedaillon, das im Wagen unversehrt geblieben war. Es stammte aus Rom. Die Jahre darauf, bei der väterlichen Großmutter im Nordwesten, in Sligo, hatte er in guter Erinnerung. Nicht weil er die Gedichte von William Butler Yeats gelesen hätte, dessen Blick die Wälder und Seen und Tafelberge und Megalithgräber jener Landschaft für immer mit dem Klang seiner Wörter versehen hat. Sondern weil die Großmutter Ceila Burton, eine Witwe mit einem kleinen Haus in Garravogue Villas, ihm die Freiheit ließ, die Landschaft wortlos zu durchstreifen. Er trieb sich auf dem Plateau des Ben Bulben herum, duckte sich hinter die Riesensteine auf den Gräbern von Carrowmore, legte sich ins Heidegras, um den Himmel zu betrachten und mit den Wolken zurück zu ziehen nach Cork. Nie vergaß er den Hafen von Cobh. Die Hand des Vaters. Cloudesley Burton hatte ihm dort am Pier erzählt, dass von hier aus in den großen Hungerjahren Millionen über den Atlantik gefahren waren, in überladenen Schiffen, krank von Typhus und Cholera, nicht wenige erreichten als Tote das gelobte Amerika, und die Schiffe, sagte der Vater, nannte man schon, als sie ablegten in Cobh, »schwimmende Särge«.
    »Coffin boats, you know?«, hatte der Vater mit einem so sehnsüchtigen Blick nach Westen gesagt, dass Leicester am liebsten geweint hätte. Aber ein irischer

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