Feuer brennt nicht
sagt er. »Die Violinen sind zu laut.«
Dann greift er in seine Reisetasche und wirft ihr den weißen Hasen zu, in hohem Bogen. Nach dem Essen wäre noch viel Zeit, doch Alina nimmt seine Hand aus ihrem Haar und kocht Tee. Dabei erzählt sie von einem neuen Job im kommenden Monat, gleich um die Ecke. Er kennt das Geschäft dem Namen nach, eine ehemals linke Buchhandlung mit Stammsitz in Steglitz; in den Schaufenstern hingen noch in den Siebzigern selbstgemalte, mit roten Plastiknelken gespickte Plakate, endlose Appelle voller Ausrufzeichen. Jetzt ist ein Konzern daraus geworden, eine Kette, die Stapelware verkauft und deren Geschäftsführer berüchtigt sind für ihre amerikanische Personalpolitik. Doch Alina ist froh über die Stelle; zwei Tage in der Woche soll sie arbeiten und hat endlich wieder mehr Zeit für das Studium und die Magisterarbeit, die sie hinter sich bringen will. Und sie macht tatsächlich eine Handbewegung, als werfe sie etwas über die Schulter.
Er staunt einmal mehr darüber, wie leicht ihr der Alltag gelingt. Offenbar geht sie erst gar nicht davon aus, dass ihr wesentliche Dinge wie Wohnung, Arbeit und Nahrung vorenthalten werden könnten, und weil sie zudem nichts wirklich dringend will, fällt ihr alles ganz leicht zu. Schneller als ihm in seinen ersten Wochen in Westberlin ist ihr klargeworden, dass diese flackernde, von allen Seiten subventionierte Raserei nur Leerlauf ist, der zwar Nerven kostet, aber viel mehr nicht, scheint doch kaum etwas in dem Leben zwischen den Mauern wirklich existenziell zu sein, nicht einmalseine Schattenseiten. Aber jetzt ist sie offenbar traurig oder doch bedrückt, irgendetwas Unausgesprochenes färbt ihre Aura grau, und sie sieht nicht auf, als er sie danach fragt.
Sie krault das Stofftier in ihrem Schoß, und er hört der Stille den Akkordwechsel an. Sein Atem wird flach, er schließt kurz die Augen, und weil er aus einem chronischen Mangel an Realismus hellsichtig wurde allem gegenüber, was seine Träumer-Existenz gefährden könnte, ein Virtuose der Ahnungen, ist er schließlich nicht mehr überrascht, als sie ihm sagt, dass ihre Regel ausgeblieben sei. Er nickt nur, blickt aus dem Fenster ins Weite und trinkt einen Schluck Tee, das heißt, er versteckt sich hinter dem Goldrand der Tasse. Alina zupft dem Häschen ein paar Haare aus. Das unhörbare Knistern, mit dem sich bereits eine neue, für ihn herbe Wirklichkeit um ihren letzten Satz kristallisiert, verstummt jedoch jäh, als sie dann von Fehlalarm spricht. Nur einen Monat sei sie ausgeblieben, und inzwischen scheine alles normal zu sein …
Aber er spürt, dass ihr noch etwas auf der Seele liegt; sie fingert an ihrem Schmuck herum, schiebt die Perle auf der Kette hin und her und blinzelt unentwegt. Und dann atmet sie tief: Allerdings habe ihr die Gynäkologin anlässlich der Untersuchung am Vortag geraten, langsam einmal über Kinder nachzudenken, jetzt, mit Mitte zwanzig. Solche Ereignisse seien meistens ein Signal. Und darum … Sie schluckt hart, er hört es knacken in ihrer Kehle, und als er aufsteht und das Fenster öffnet, ein wenig zu abrupt vielleicht, scheint etwas in ihr zu sinken; jedenfalls spricht sie plötzlich leiser,flüsternd fast: Darum möchte sie wissen, was er davon halte, und ob er sich das vorstellen könne?
Sie rührt ihn im Moment mehr, als er zugeben würde, und er möchte sie nicht enttäuschen. Aber nur weil es gerade der Hormonlage entspricht, mag er ihr auch keine Hoffnungen machen. Sicher, von einer gesunden Frau zu erwarten, alle Wünsche in den Wind zu schlagen und kein Kind zu bekommen, ist dieselbe inhumane Zumutung, wie von einem Mann zu verlangen, nie mehr mit einer Frau zu schlafen. Aber sein Problem ist, dass er die Welt nicht sieht, wie sie ist, sondern wie sie seinem Empfinden nach sein sollte: Eine freie Existenz voller Anmut und Abenteuer, wer kann sich die in einer Dreizimmerwohnung mit Laufstall oder einem Reihenhaus mit festgelegten Ferienzeiten denken.
Dass Alina ihn nun leise darauf hinweist, dass das Leben keinen Blattrand hat und seine Logik unter Umständen eine andere ist als die der Liebesgedichte, dass es eine Forderung nach Verantwortung enthält, einen Ruf nach Zukunft, überrumpelt ihn, und er glaubt, das Recht zu einem Wutausbruch zu haben, als sie ihm auch noch von der demnächst freien Nachbarwohnung erzählt … Ausgerechnet jetzt! »Das schaffe ich nicht mehr vor dem Ski-Urlaub«, hört er jemanden auf der Straße rufen, und der
Weitere Kostenlose Bücher