Feuer brennt nicht
Radiosprecher wünscht einen guten Start ins wohlverdiente Wochenende mit Antenne Kultur und dem Scherzo Nr. 1 h-Moll op. 20 von Frédéric Chopin. – Irgendetwas soll hier eingefädelt werden, das ist sein Verdacht, und er fühlt sich, als hätte er etwas Kleingedrucktes übersehen, jene geheime Klausel, in der die enge Geometrie desVoraussichtlichen lauert. Einen seltsam grauen Geschmack im Mund, ist ihm die Reise mit einem Schlag vergällt, und er wirft die Tickets aufs Bett, schultert seine Tasche und lässt Alina mit ihren Tränen allein.
Kaum ist er in seinen Räumen, klingelt das Telefon, was er jedoch ignoriert. Er hängt die Kleider wieder in den Schrank, räumt den Schreibtisch auf, und zerreißt Notizen und die verschiedenen Fassungen seines Buchmanuskripts in kleine Stücke. Dann schält er einen Apfel und hört weiter Radio, neue Nachrichten von dem Brodeln in der DDR.
Wie die meisten seiner Bekannten damals hat er den Staat auf der anderen Seite der Mauer nie wirklich wahrgenommen, auch wenn der Fernsehturm mit der spiegelnden, an Sommerabenden rötlichen Kugel in Sichtweite stand. Ein einziges Mal in fünfzehn Jahren war er in Ostberlin, und die Tristesse in den baumlosen Straßen, der Gestank der lachhaften Autos und das Vergrämte in den Gesichtern der Menschen, die in Häusern mit zerschossenen Fassaden verschwanden, hatten seinen romantischen Sozialismus, der davon ausging, dass es Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ohne Schönheit nicht geben kann, vor Schreck und Entsetzen nur noch romantischer gemacht. Das alles musste ein vorübergehender Irrtum sein, ganz sicher, und weil er nirgendwo sonst eine Gelegenheit fand, die zwanzig Mark Pflichtumtausch auszugeben, rettete er sich in eine Buchhandlung am Alexanderplatz. Hier fühlte er sich gleich wohler, auch wennihm schnell klarwurde, dass es an der Kundschaft lag, hauptsächlich Menschen aus dem Westen, denn günstig gute, in Leinen gebundene Bücher zu kaufen – Gorki, Brecht, den ganzen Dostojewski für weniger als ein Abendessen im »Robbengatter« –, das war damals für viele der einzige Grund, nach Ostberlin zu fahren. Und auch Wolf staunte über die gut gefüllten Regale voller Klassiker, die ganz ohne Warenglanz auskamen und deren Einbände und Ausstattungen ihm darum menschlicher erschienen als im Westen. Ein schief gesetztes, unter den Fingerspitzen zu fühlendes Sonett von Shakespeare oder Goethes Gedichte in schlechtem Druck auf holzhaltigem Papier gingen ihm plötzlich wieder nah, und er stöberte stundenlang in den verschiedenen Etagen – auch wenn er dann nur ein Bändchen von Max Frisch kaufte.
Die Frau an der Kasse, die einen Wollrock und eine weiße, schlecht gebügelte Bluse trug, tippte den Betrag ein. Sie war gut doppelt so alt wie er, hatte schmucklose, vom vielen Waschen gerötete Hände, absolut keinen Geruch und ein Gesicht, das sich jeden Ausdruck zu versagen schien, und vielleicht kam sie ihm deshalb geheimnisvoll vor; doch erwiderte sie sein Lächeln nicht. Sie trug Strümpfe, die es im Westen längst nicht mehr gab, braune Strümpfe mit einer Naht wie eine Lakritzschnur, und hatte sich die Haare zu einem Knoten zusammengesteckt, den man früher Dutt oder Halleluja-Zwiebel nannte, und während sie kassierte, fiel ihm ein, dass er doch noch etwas kaufen könnte. Er zeigte auf die Empore, die Regale voller internationaler Literatur, und fragte: »Finde ich dort auch Proust?«
Er hatte es weder spöttisch noch provozierend gemeint; schließlich waren ihm unzählige Bände von Hemingway, Mailer, Faulkner, Sartre und Malraux aufgefallen. Er war einfach ein junger Mann, der schon lange einmal »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« lesen wollte, sich die gebundene West-Ausgabe in ihrem kostbaren Schuber aber nicht leisten konnte und nun eine Gelegenheit sah. Er hatte noch so viele Ostmark. Die Frau blickte auf, strich sich eine lose Strähne hinters Ohr; die Lippen waren geschminkt, ein stummes Rot, und er bemerkte ein Taschentuch mit gehäkeltem Rand in ihrem Blusenärmel. »Proust?!«, fragte sie leise, als hätte sie nicht richtig gehört, und dabei blieb ihre Miene doch unbewegt.
Wolf steckte das Wechselgeld in die Tasche, die blechernen Münzen, während sie ihn taxierte. Eine tiefe, längst zur Gewohnheit gewordene Enttäuschung war in ihrem Gesicht, und einmal davon abgesehen, dass das nie im Leben wiedergutgemacht werden konnte, wollte sie nicht auch noch verhöhnt werden. Sogar ihr Teint kam ihm
Weitere Kostenlose Bücher