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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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hat sie, in dem im vorigen Winter alle Fische umgekommen sind. »Nicht weil er zugefroren war, das hätten sie schon überlebt; aber ich habe vergessen, das Herbstlaub vom Grund zu harken, so dass sich Fäulnisgase bildeten unter dem Eis und die Tiereerstickten. Man ist mehr Monster, als man weiß. Aber im Frühjahr habe ich mir neue gekauft, ein halbes Dutzend schöner bunter Koys, dick wie Karpfen. Natürlich nicht die echten aus Japan; wer kann die bezahlen. Mehr so billige Teile aus dem Baumarkt. Und stellen Sie sich vor, vier hat der Reiher schon geholt. Da kann man nichts machen. Ein Netz spannen, klar, aber das sieht ja furchtbar aus. Und der Plastikhund, den ich neben das Becken gestellt habe, weil er angeblich abschreckt, lag am nächsten Tag im Salat. Mein Sohn hockte fast eine Woche mit dem Luftgewehr in der Laube, ohne Erfolg. Und kurz darauf holte sich das Biest den fünften Koy, den prächtigsten, mit rosa Augen und dunkelblauen und gelben Flecken. Aber der war ihm zu wehrhaft oder zu schwer, jedenfalls verlor er ihn im Flug, und der arme Fisch landete beim Nachbarn auf der Garage. Da zappelte er wie wild, und wir tanzten zu dritt auf der Dachpappe herum und kriegten ihn nicht zu fassen. Erst, als jemand eine Wolldecke holte …«
    Während sie redet, legt sie ihm immer wieder die Hände an die Schläfen, um seinen Kopf zurechtzurücken, und nicht selten glaubt Wolf in ihrem puppenhaft geschminkten Gesicht neben dem Bemühen um Gelassenheit auch einen Hauch von Nachsichtigkeit zu erkennen, wenn er das Thema auf das Leben und den Alltag in der DDR lenkt. Normalerweise – und vielleicht zu Recht – wird sein ethnographischer Eifer nach ein, zwei Fragen als Zumutung empfunden und nur mit einsilbigen Antworten bedacht. Man will nämlich nicht exotisch oder gar schon Geschichte sein.Wenn ein Westdeutscher nicht weiß, was genau ein Brigadetagebuch war oder die Jugendweihe, wird das durchaus beleidigt zur Kenntnis genommen; während man hier bei dem Wort Firmung an Firma denkt, klar. Möglicherweise ist es ja auch schon wieder Ausdruck von Großspurigkeit und Arroganz, die man Menschen aus den alten Bundesländern gern unterstellt, aber in Wolfs Augen ist das Aufdringlichste an den älteren Ostlern – das, was ein schlicht um Information bemühtes, freundlich gedachtes Gespräch stets ein wenig ins Bellende oder gar Aggressive verzerrt – ihr unsinniges Minderwertigkeitsgefühl gegenüber Westlern. Doch Frau Seidenkrantz scheint es völlig zu fehlen; sie plaudert ganz unbefangen aus der Zeit vor dem Mauerfall, wobei sie freilich immer erst einen Blick in den Spiegel wirft, auf die Wartenden neben der Tür.
    »Eigentlich kann ich nicht klagen«, sagt sie. »Wir hatten ja alles. Hier um den See herum war Versorgungslage A, wegen der Touristen. Sogar Südfrüchte gab’s. Und wenn mal was fehlte, hat man es irgendwie organisiert. Es war ein Geben und Nehmen, wissen Sie. Ich machte doch allen die Haare, und so legte der Bäcker mir Weißbrot oder einen Stollen zurück, und an den Sommerwochenenden hatte die Frau des Metzgers immer ein Päckchen Grillfleisch für mich, umsonst. Nicht mal anstehen musste ich, ging zur Theke, hielt meinen Beutel auf, und Tschüs, bis zur nächsten Dauerwelle. Und auch Elektrogeräte und solchen Kram: Ich weiß nicht mehr, wie viele Fernseher und Waschmaschinen wir am Alex gekauft haben, um sie den Verwandten zu bringen in unserem Kombi-Trabant. Die wohnen inder untersten sächsischen Ecke, im Tal der Ahnungslosen, wohin nichts geliefert wurde. Als wir meiner Nichte mal einen Lockenstab schenkten, war die zwei Tage lang aus dem Häuschen. Nur das Reisen, das hat einem wirklich gefehlt. Ostsee, Plattensee, Schwarzes Meer, das kriegte man schnell über. Ich träumte immer von London und Paris. Und dann war die Grenze plötzlich offen, und wir standen da wie angeleimt. Ich glaube, wir hatten Angst vor all der Freiheit; ich musste uns richtig treten, mich und meinen Mann. Nee, komm, hab ich gesagt, jahrzehntelang jammern wir, dass wir nicht können – und jetzt wollen wir nicht? Dann wäre ja alles falsch gewesen; dann sollen sie uns gleich wieder einmauern. Und so sind wir im Flieger nach Rom.«
    Einmal zeigt sie ihm Fotos von ihrem Mann und dem Sohn, für den sie um ein signiertes Buch bittet in der Hoffnung, dass er das interessanter finden könnte als die dauernden Computerspiele, und als Wolf sie fragt, wie man sich denn die Allgegenwart der Stasi vorzustellen habe, ob die und

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