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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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ihr Bespitzelungssystem im Alltag spürbar gewesen sei, schüttelt sie den Kopf, spricht aber plötzlich gedämpfter. In der leicht eingesunkenen Haut um die Augen herum gibt es ein Gewittern feinster Fältchen. »Ich hab keinen von denen getroffen. Aber ich war auch niemand und wollte nichts. Ich meine, wenn Sie vorhatten, Karriere zu machen, oder ins Ausland mussten, auch ins sozialistische, wie mein Mann mit seiner Brunnenbauer-Truppe, dann wurden Sie durchleuchtet, klar. Und die berühmte Hilfsbereitschaft und Solidarität der Menschen bei uns war jamindestens mit Vorsicht zu genießen; wer da alles am Grill saß, wusste man nie. Aber sonst …«
    Sie schmunzelt, blickt in den Spiegel. Zwei weißhaarige Männer warten auf den Stühlen. »Allerdings würde ich mich nicht wundern, wenn es eine Akte über mich gäbe. Ich sammle ja Kakteen, blühende Sorten, und hab mir von allen möglichen Westverwandten welche schicken lassen. Manche kamen sogar an. Und dann gab es einmal im Jahr ein konspiratives Treffen in meinem Glashaus, bei Kerzenschein, gibt es immer noch. Ich hab nämlich eine Selenicereus grandiflours, eine Königin der Nacht, wissen Sie. Die hat ’ne Ewigkeit auf dem Buckel, so ein Schlangengebilde am Spalier, größer als ich, und immer im Juli, manchmal auch erst im August, wenn es richtig heiß ist, blüht sie auf, nur für paar Stunden. Am Anfang hab ich das oft verpasst, aber mit der Zeit kriegt man doch ein Gespür. Man sieht schon gegen Abend, dass es kurz vor Mitternacht so weit sein wird, und dann telefoniere ich Freunde und Bekannte aus der Siedlung zusammen, zehn oder fünfzehn Leute waren wir schon, und wir sitzen still mit einem Glas Wein und warten. Das ist wie eine Andacht, und wenn dann die Blüten aufgehen und dieser unglaubliche Geruch nach Vanille oder Mandelmilch sich ausbreitet, könnte man weinen. Mir jedenfalls werden immer die Augen feucht, seit dreißig Jahren. Und diese Traurigkeit – das klingt jetzt seltsam, ich weiß –, die ist das reine Glück. Da vergessen Sie alles um sich herum, jeden Staat, trotz der Schatten im Garten.«
    Die Bücher stehen still in hohen Schränken. Die Bücher sind alt. Voll mit Wörtern, tun sie zwar wichtig und geben sich ernst, aber letztlich verschweigen sie das meiste, diese kleinen Särge der Seligkeit, auch zwischen den Zeilen. Der Staub auf dem Goldschnitt sagt mehr.
    Die erste Zahnkrone im sichtbaren Bereich, schmerzhafter Verschleiß im Lendenwirbel, ein jäher Hörsturz, noch ohne Tinnitus, und plötzlich ersteht man Schuhe für achthundert Euro und beginnt damit, Gesamtausgaben zu kaufen … Andere Männer träumen in dem Alter von einem Porsche oder einem Schweizer Chronometer mit Tourbillon. Dabei hört man schon von ersten Bekannten, die krank oder lebensmüde ihre jahrzehntelang zusammengetragenen, nicht nur in materieller Hinsicht kostbaren Bibliotheken veräußern; die Erben lesen eh nicht mehr. Dennoch gibt man ihm nach, dem Wunsch nach Vollständigkeit oder gar Status, der sich in prunkvollen Regalen ausdrückt. Man mauert sich ein in der Zeit mit all den Papierziegeln und blättert in Vorschauen und Katalogen, während der Sturm ringsum die Bäume knickt. Dass zum Blühen das Flüchtige gehört, ist ein schöner Satz, doch man hätte ihn gern in Leder gebunden.
    Novalis geht ja noch, aber zwanzig dicke Bände Hermann Hesse – wann will man denn die zehn, die man noch nicht kennt, lesen? Jean Paul in derbem Leinen, eine lange Reihe, und man ermüdet schon beim »Siebenkäs«. Ein guter Meter Wieland, und auch Heinrich Böll unter Dach und Fach, eine kompakte Mahnung, ihn sich noch einmal zu Herzen zu nehmen. Aber was genau? Und wann? Der fliederfarbene Proust mitder Goldprägung, Proust im Schuber, und die Dünndruckseiten, in denen man blättert, wispern ihr zärtliches »Zu spät …«
    Dennoch kauft man weiter, und der Handwerker, der eine Abzugshaube über dem Herd montiert, weist mit dem Schlagbohrer auf die Reihen und Rücken im Wohnzimmer und fragt: »Sind die alle echt?« – Nein, nicht wirklich. Im Grunde sind es dieselben dekorativen Attrappen, die er aus den Schränken der Möbeldiscounter kennt, denn wenn man etwas nachschlagen will, greift man ja doch zu den zerfledderten und zerschrammten Taschenbüchern voller Tee- oder Rotweinflecken aus der zweiten Reihe. Hier weiß man fast blind, wo welcher Absatz zu finden ist, und all die Zettel, Zigarettenblättchen oder Bonbonpapiere zwischen den Seiten, die umgeknickten

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