Feuer brennt nicht
Ecken, die mit dem Daumennagel oder dem Bleistift vor über zwanzig oder dreißig Jahren vorgenommenen Markierungen, ein Herbstblatt, von dem nur noch zartes Geäder übrig ist, der Geruch nach Nikotin oder einer Ofenheizung oder Schimmel in welcher Wohnung? welchem Hinterhof? machen jedes einzelne Buch wertvoller, als es die neuen, säuberlich wie Reiheneigenheime nebeneinander stehenden Gesamtausgaben sein können.
Dieser oder jener Text hat einem geholfen zu leben und mehr: er hat einen dazu erzogen, das Leben zu erleben, und es dadurch reicher und einen selbst freier gemacht. Das ehrwürdige Großmutterwort »Wer liest, lebt doppelt« bewahrheitet sich am schönsten, wenn man sich so eine markierte Stelle noch einmal ansieht. Das Augenaufschlagen, das hier stattgefunden hat, dasEinatmen bis in die zartesten Seelen-Facetten, scheint sich auch dann zu wiederholen, wenn man längst anderer Meinung ist oder das Gesagte für banal hält und gerührt ist von der eigenen Naivität. Es sind Sätze, um die sich ein Schimmer des Staunens oder Entzückens erhalten hat, der Reflex unserer einstigen Reinheit oder jungen Ideale, und ihr innerster Hall vergrößert den Raum und führt uns vor Augen, wie lange und wie weit wir doch gegangen sind für die ungeheuer schlichte Einsicht, dass nur das Flüchtige blüht.
Die Hölle der Verheimlichung, der Himmel der Lügen. Seit Monaten trifft er sich nun schon mit Charlotte. Ihretwegen hat er sich ein Handy zugelegt, neue Wäsche und ein herberes Aftershave, ihretwegen stutzt er seine Schamhaare, und wenn er sich davonstehlen kann aus Friedrichshagen, klingelt er alle zwei Wochen gegen zwanzig Uhr an der Tür ihrer Hinterhofwohnung am Prenzlauer Berg. Sie liegt im fünften Stock, ohne Aufzug, mit Blick auf die Kugel des Fernsehturms, das sich drehende Restaurant. Trotz eines gläsernen Schreibtisches, zweier Ledersessel im Bauhaus-Stil, einem großen weißen Sofa und kniehohen Regalen wirkt das Wohnzimmer kahl und wird dominiert von einem Boden aus gebeizter Tanne. Das Braun der Dielen ist dunkel wie Websters Fell, und wenn die Putzfrau sie frisch gebohnert hat, finden seine Pfoten nur schwer Halt darauf. Überall brennen kantige, wie Orgelpfeifen angeordnete Kerzen, und auf den Regalen liegen alte Taschenuhren, die Charlotte sammelt,getrocknete Rosen und kostbare Bild- und Fotobände. In der funktionalen Küche ist alles, sogar der Griff der Spülbürste, aus Edelstahl, und von Lamellenschränken abgesehen gibt es im Schlafzimmer nur das breite Bett und eine Lampe, eine ballgroße Plastikkugel, die auf dem Boden liegt und hin und her rollt, wenn man sie anstößt. Eine gefiederte Maske aus Venedig hängt am Fenstergriff, und auf dem Wandbrett liegt eine Knirschschiene in einem kleinen blauen, im Licht transparenten Etui.
Um nicht allzu nackt dazustehen mit seinen Absichten, hat Wolf sich angewöhnt, ihr Blumen mitzubringen. Die großen dramatischen liebt sie, Callas, Lilien, Freilandrosen, und während sie die Pracht in der Vase arrangiert, verschwindet er, noch atemlos von den Treppen, zuerst einmal im Bad und wäscht sich ausgiebig die Hände; auch wenn es gelegentlich so ist, soll sie nicht denken, er sei atemlos vor Gier. In einem Glas auf der Ablage stecken drei Zahnbürsten, zwei trocken, eine nass, und immer wieder bemerkt er verschiedenfarbige Haare im Abfluss oder im Kamm unter dem Spiegel. Auf dem Wannenrand, neben der Figur einer nubischen Göttin aus Holz, steht ein Tönungsshampoo für Männer, und einmal schwimmt noch das Kondom seines Vorgängers in der Toilette und will trotz wiederholten Spülens nicht verschwinden.
Oft empfängt Charlotte ihn im Frotteemantel, einem flauschigen weißen, der ihre teure Bräune betont. Darunter ist sie nackt, und anfangs tut sie noch so, als wäre sie just aus dem Büro oder vom Flughafen gekommen, ohne Zeit für eine rasche Dusche. Dabei istihr Make-up frisch. Aber das heißt nicht, dass er gleich über sie herfallen darf; sie braucht ein gewisses Ritual. Eine Schale Obst, eine Karaffe Wasser und eine Flasche Wein oder Grappa stehen immer auf dem niedrigen Couchtisch, und sie trinken erst einmal etwas und reden über die vergangenen Tage oder Wochen, wobei Charlotte ihm die Füße in den Schoß legt und selten bemerkt, dass ihr Gürtel sich lockert. Sie hält das Glas mit den Fingerspitzen beider Hände und sieht ihn zwar an, während er spricht, doch ist sie in Gedanken meistens noch woanders; manchmal verschluckt sie ein
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