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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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hinter dem Mundschutz, auf dem sich ein Atemfleck gebildet hat, und schließt einmal sanft die Lider. »Da staunen Sie, was? Der Mensch ist ein romantisches Röhrensystem.«
    Staunen ist kein Ausdruck. Dass es in einem wie auch immer gearteten Jenseits nicht nur unvorstellbar ist, sondern vielleicht sogar unvorstellbar schönsein könnte – hier wird es ihm angedeutet mit lautloser Stimme. Alles Innere, sei es nun geistig oder körperlich, war ihm bisher gleichbedeutend mit Chaos, Flüchtigkeit und dunklem Brodeln; doch in diesem verblüffenden, aus reinem Zartsinn geformten, bis in die kleinsten Schwünge und Krümmungen eleganten Kosmos drückt sich eine tiefe, sichtlich mehr als ihn und seinen Körper meinende Ordnung aus, ein fühlbares Wohlwollen, das auch deswegen so erschüttert, weil es ihm vor Augen führt, wie wenig würdig er sich ihm bisher erwiesen und wie viel Schindluder er damit getrieben hat. Wie dürftig sein Glaube war. – Er atmet tief, als er wieder vor die Glastür tritt, er ist heilfroh. Aus dem Bäckerladen weht ihm der Duft frischer Brötchen entgegen. Polizeifahrzeuge kreuzen den Park, der neben der Praxis liegt, Blaulicht flackert unterm blauen Himmel.
    »Was hättest du denn getan, wenn etwas Schlimmes erkannt worden wäre, etwas Endgültiges«, fragt er Alina, als ein paar Tage später der beruhigende Befund eintrifft, und sie zuckt mit den Achseln. Während er fast immer außer sich gerät, wenn sie nur einen Schnupfen hat oder Kopfschmerzen, sofort alle möglichen Hilfsmittel kauft und ihre Leiden oft noch vergrößert dadurch, dass er sie mit seiner Ungeduld traktiert, bleibt sie meistens gelassen. »Dann hätten wir eben mit der Krankheit gelebt«, antwortet sie. Und als er lacht über diesen Pragmatismus und sagt, er freue sich schon riesig, ihr einstmals den Haferbrei vom Kinn zu wischen, die Bettpfanne unterzuschieben und den Rachenschlauch abzusaugen, schüttelt sie sanftden Kopf. »Oh nein, Sweetheart, so weit wird es nie kommen. Nicht mit uns.«

    Wehe dem, der nicht im Schutz der Liebe altert.

    Wo früher rostige Zwinger standen, eine lange Reihe für die Hunde der Volkspolizei, verputzt man jetzt die Eigenheime. Und das Erste, was die Menschen in ihre neuen Räume stellen, sind Regale für die Akten.

    Sie will ein Foto sehen von der anderen, möchte sie sich vorstellen können, und er bringt ihr zwei: Das offizielle, das sich auf der Internetseite ihrer Fakultät befindet und auf dem Charlotte aussieht wie eine gütige, in ihrem Tun aber jederzeit entschiedene Führungskraft – wobei die klare Aura, die Kompetenz verleiht, von dem Hauch einer schönen, aus unerfüllter Sehnsucht kondensierten Melancholie auf den ersten Blick getrübt, auf den zweiten hervorgehoben wird –, und eines vom letzten Jahr, auf dem sie in einem dunklen Hosenanzug, tief dekolletierter Rüschenbluse und wie immer spitzen Schuhen vor der Tür ihres Schlafzimmers steht und seltsam verlegen in die Kamera blickt, trotz des strahlenden Lächelns; es soll wohl darüber hinwegtäuschen, dass es ihr zu dem Zeitpunkt nicht gutgeht. Abgemagert sieht sie aus, wobei sie trotzdem nicht versäumt, ihre Silhouette ein bisschen köstlicher zu machen durch eine hervorgekehrte Hüfte, undnachdem Alina lange auf das Bild geschaut hat, sagt sie: »Beeindruckend. Sie passt zu dir. Ich kann euch verstehen.«
    Es hat sich wenig geändert seit dem Bekenntnis. Alle zwei Wochen, eine nach und nach von ihrem Verlangen festgelegte Distanz, fährt er zu Charlotte, und auch wenn so ein Treffen schon länger feststeht – um es Alina erträglicher zu machen, kündigt er es immer erst an dem jeweiligen Tag an, nach dem Frühstück etwa oder mittags beim Geschirrspülen, und so nebenher, wie es geht. Es gehört zu ihren Gewohnheiten, die zweite Tasse Tee oder Kaffee am Morgen auf dem Sofa zu trinken, einer an den anderen gelehnt, und in den Himmel über ihrem Südbalkon hinauszuträumen, wobei sie meistens schweigen und Musik hören, manchmal aber auch ihre jeweiligen Arbeiten besprechen und einander Ratschläge geben.
    Nur schwer kann er sich in ihre Wissenschaft und die Sprache der Sekundärliteratur einfühlen, staunt aber immer wieder über Alinas Fähigkeit, sich seine Belange anzuverwandeln und das Wesentliche seiner Texte zu sehen, ohne je ihre feineren Verästelungen aus dem Auge zu verlieren. Ihr Instinkt für Qualität ist untrüglich; sie spinnt Handlungsfäden weiter, macht Titelvorschläge, rät ihm zu Briefen oder

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