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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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zurück. »Krieg und Frieden« habe sie in ihrer Jugend gelesen, auf Russisch, und immer nur geweint. »Der Tolstoi …«, sagt sie. »Das war einer, was? Hässlich wie ein Wurzelsepp, aber vor lauter Idealen doch wieder schön. Und er hat diese Szene geschrieben, in der Lewin und Kitty sich gefunden haben – oder war das jetzt in ›Anna Karenina‹? Was meinen Sie, was der heute sagen würde zu unserer Welt. Wir leben doch in einer Quasselkultur, oder? Ich will mir ein Fußballspiel im Fernsehen anschauen und krieg erst mal eine satte Stunde Gequassel verpasst. Dann wird endlich gebolzt, und in der Pause gibt’s wieder Text, von angeblichen Fachleuten, die Schwierigkeiten mit der elementaren Grammatik haben. Und kaum ist das Spiel zu Ende, kommt auch noch der Trainer dazu, und alle erzählen mir lang und breit, was da gerade in meinem Fernseher lief. Denn ich bin ja blind, nicht wahr. – Also, dann machen wir bei Ihnen mal ’ne Sonographie. Ach nee, ’ne Spiegelung war das. Wird schon schiefgehen.«
    Zwei Tage lang schluckt er Abführmittel und reitet auf dem Klotopf durch die Niederungen seiner Depression, wobei Alina ihm immer wieder Kräutertees kocht, und dann ist der Darm leergespült und kann also besichtigt werden. An dem verabredeten frühen Morgen ist es in der Praxis sehr still. Ein frischer Blumenstrauß steht auf dem Empfangstresen, eine Kerze brennt aufdem Glastisch voller Zeitschriften und Prospekte, die farbenfroh über alle möglichen Krankheiten informieren, und neben einer Schale mit Keksen, erst nach der Untersuchung zu essen, dampft eine Kanne Tee auf einem Stövchen. Leise, offenbar beruhigend gedachte Musik kommt aus den Lautsprechern unterm Deckenstuck, und auch das Personal scheint auf Zehenspitzen zu gehen und redet flüsternd, als wäre das Wartezimmer plötzlich etwas Sakrales, ein Raum der Demut. Alle Patienten – außer Wolf warten noch zwei weißhaarige Männer und eine Frau in Alinas Alter auf ihre Endoskopien – haben eine Plastiktüte mit den erbetenen Handtüchern und dem Paar extra dicker Socken dabei, und niemand spricht oder liest oder blättert auch nur in einer Illustrierten. Geschwächt von den Hungertagen und dem Abführmittel, döst man vor sich hin oder starrt die Wände an, die Landschafts-Aquarelle in versilberten Rahmen, und nur ab und zu ist ein Schlucken oder Räuspern zu hören, und das Kerzenflämmchen flackert, wenn jemandem ein Seufzen entfährt.
    Schon im Treppenhaus des schönen Altbaus waren Wolf die Beine schwer geworden, und er hatte sich noch einmal umgedreht und durch die Scheiben der Tür in den Himmel geschaut. Der nächste Blick in dieses Blau könnte der eines Todgeweihten sein, war eine Befürchtung, die sich nicht verbieten ließ; und was das sogenannte positive Denken betrifft: Allein der Mutwillen, den es braucht, stimmt ihn seit jeher negativ. Doch dann erinnerte er sich an den Spaziergang, den sie am Vortag gemacht hatten.
    Es war regnerisch gewesen am See, menschenleer, und Webster streunte im Unterholz herum. Leicht fühlte Wolf sich nach dem Fasten, ohne rechte Erdung, und hakte sich bei Alina ein – als lautlos und schneller als jedes Erschrecken ein Vogel auf dem Weg landete, eine junge Kohlmeise. Sie kam so nah vor ihre Schuhspitzen, dass sie unwillkürlich stehen blieben und wie auf ein Wunder hinunterstarrten. Man hätte sich bücken können nach ihr, und während sie hier und da auf der Promenade herumpickte, sah sie immer wieder ohne jede Scheu zu ihnen hoch; sicher war sie hungrig und erhoffte sich irgendwelche Krumen, doch sie hatten nur Kaugummi dabei.
    Trotzdem blieb sie in ihrer Nähe und flog auch nicht auf, als sie schließlich gehen wollten und behutsam einen ersten Schritt machten. Sie sprang gerade so weit vor, dass der anfängliche Abstand wiederhergestellt war, und das immer noch einmal, minutenlang, wobei sie ab und zu einen spitzen Laut ausstieß. »Also, mein Liebster?«, fragte Alina, ohne die Augen von dem Tier zu lassen: »Was sagt dir das?« Aber er, der düster gestimmt blieb, ganz eingenommen von seinen Schmerzen, der bevorstehenden Untersuchung und dem drohenden Befund, zuckte nur mit den Achseln; was sollte es ihm sagen? Da lächelte sie breit. »Na, ist das nicht klar? Hab keine Angst! «, flüsterte sie, und plötzlich flog der Vogel fort.
    Die Jalousien des hohen, mit zerschrammten weißen Möbeln und allen möglichen technischen Geräten und Monitoren ausgestatteten Untersuchungszimmers, in dem die

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