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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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anzudeuten war ja schon der Geheimstempel einer Akte, die man lieber nie in die Hände bekommen möchte.
    Frau Seidenkrantz, die Friseuse, kennt übrigens den Beschuldigten; er lebt wie sie in Birkenlohe. »Der ist fertig«, sagte sie noch beim letzten Haarschneiden. »Täglich schleppt er sich an seiner Gehhilfe durch den Ort und wartet auf den Tod. Dabei hat er das damals für seine kleine Tochter gemacht. Die wäre gestorben ohne teure West-Medikamente; sie brauchte immer Nachschub, und den gab es nur über die Behörden.Da musste er sich halt erpressen lassen. Hätten Sie das etwa nicht getan?«
    Als Wolf mit der entkorkten Flasche in das Zimmer zurückkehrt, unterbricht Hannelore ihr Flüstern, und Richard, offenbar zurechtgewiesen, hebt den Fuß vom Bücherstapel und zieht einen Mundwinkel in die Wange, als dächte er: Na schön, wenn ihr alle so etepetete seid … Und dann nimmt er doch etwas Wein, gießt ihn sich über das Eis im Glas, und in der folgenden halben Stunde reden sie über Dinge, die als Tratsch oder Betriebsklatsch zu bezeichnen vielleicht richtig wäre, deren höhere Funktion aber im Umgehen von Themen besteht, in denen auch nur der Hauch einer Ansicht aufscheint, der man nicht widersprechen könnte, ohne dem anderen zu nahe zu treten – oder der man nicht zustimmen könnte, ohne sich selbst zu verraten. Die Pausen zwischen den Sätzen sind immer noch reines Lauern, bei dem die Eiswürfel leise knacken, aber indem sowohl Richard als auch Wolf das Gespräch über Verleger, Buchumschläge, Lesungsreisen oder Honorare so harmlos wie möglich dahinplätschern lassen, teilen sie sich die heimliche Überzeugung mit, dass der andere es nicht wert ist, Energie oder gar Leidenschaft für einen Austausch von Meinungen aufzubringen, die mehr wären als müder Atem. Doch es hilft nichts, gerade diese dezidierte Schonung lässt beide die Zähne nur noch fester aufeinanderbeißen, wobei die gelegentlichen Einwände der Frau und ihr Gefuchtel mit den Glockenärmeln der Bluse zusätzlich nerven, so dass der Missmut sich immer tiefer in Richards Züge furcht und Wolf sich zusammennehmen muss, um dieunterschwellig rumorende Frage, warum der andere ihn überhaupt »besucht« hat, was zum Teufel er hier will, dieser Dichterdarsteller, nicht auszusprechen.
    In der Hoffnung, dass dem Gespräch durch eine Wendung ins Medizinische zumindest der Anschein von Substanzhaltigkeit gegeben wird, will er schon auf sein pathetisch ausgestelltes Überbein eingehen, da räuspert sich Richard etwas aus der Kehle und bemerkt mit einer Stimme, deren plötzlich gedämpfter, wie von einem dünnen Papier belegter Klang schon früher seine Verlegenheit oder Nervosität verriet, während der gelangweilte Ton suggerieren soll, er befinde sich im Grunde außerhalb des Gesagten: »Übrigens fällt mir ein: Voriges Jahr hab ich in der Zeitung, ich weiß jetzt nicht mehr, ob in einer überregionalen oder in einem Allgäuer Käsblatt, einen Artikel über dich gelesen. Es wurden auch noch andere Autoren behandelt, über dich gab’s genau genommen nur vier Zeilen, aber irgendein Naseweiser schrieb, dass neuerdings so etwas wie eine spirituelle Unterströmung in deinen Arbeiten auszumachen sei und man hier und da Bezüge zur Bibel herstellen könne. Da stutzte ich doch, stimmt’s, meine Liebe? Mensch, dachte ich, was ist das? Sollte der Freund auf seine alten Tage religiös geworden sein?«
    Beide sehen ihn abwartend an, und während Wolf jäh erleichtert ist darüber, dass auch Richard offensichtlich nichts mehr gelesen hat von ihm (dies en passant anzudeuten, hielt er vermutlich für subtil), muss er sich gleichzeitig beherrschen, seine Verblüffung über dessen raffinierte Vergesslichkeit nicht zu zeigen.Einen Moment lang glaubt er, etwas von der früheren Vitalität in seinem Gesicht zu erkennen, der mit Bildung bewaffneten intellektuellen Angriffslust, die schon deswegen immer etwas Bemühtes hatte, weil sie ihm nicht wirklich entsprach, weil er sie sich und seinem trägen Genießertum ausdrücklich abverlangte. Doch seine wohlformulierte Skepsis allem gegenüber, was von wem auch immer geäußert wurde, war nicht nur Attitüde; sie entwuchs der Angst des aufgeklärten Autors vor der Einsicht, dass die Welt endgültig verloren wäre ohne den Glauben an das Wunderbare – einer Einsicht, die genau die Demut erfordert, die ein Egozentriker oder auch Libertin, der sie mit Unterwerfung verwechselt, nicht aufzubringen vermag. Die

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