Feuer brennt nicht
Zungenspitze liegt auf der Unterlippe, die Brauen sind erhoben, der Blick hat etwas Bohrendes, und während er eine Antwort erwartet, wirkt er plötzlich ähnlich traurig auf Wolf wie jene betont Interessierten oder Lebensfrohen, die in Walking-Gruppen, Cholesterin-Kursen oder Senioren-Discos aktiv gegen das Altern vorgehen. »Ach was«, sagt er schließlich und legt nun seinerseits einen Fuß auf die Bücher. »Lass sie doch schreiben, was sie wollen. Natürlich bin ich nicht religiös, wie jeder Engel. Nur Gottlose beten.«
Richard stutzt, und in dem folgenden Lachen, hölzern das seine, wobei er ihn aus schmalen Augen mustert, entzückt das ihre, kindlich fast, löst sich die Anspannung im Raum, und obwohl alle Fenster seit Beginn des Besuches offen stehen, hat man erst jetzt das Empfinden von frischer Luft. Es ist, das fühlen sie alle drei,der eine Moment, der die Erinnerung an diese Stunde erträglich machen wird, womöglich heiter, und als Wolf auf die Uhr blickt, erhebt sich der andere, kippt den Wein und zerbeißt ein Stück Eis.
»Tja, mein Lieber, dann wollen wir mal. Wir haben schon genug Zeit am See vertrödelt. Müssen noch was tun.« Er reicht ihm sein leeres Glas, mustert die Buchrücken in den Regalen und lässt sich seine Enttäuschung darüber, unter S nur Shakespeare zu finden, jedenfalls nicht ansehen. Er zieht einen Band Novalis hervor, eine Ausgabe aus den zwanziger Jahren, befühlt das mattblaue Leder und zeigt damit auf seinen Schuh, das Überbein. »Und wenn wir schon im Metaphysischen herumstapfen: Weißt du, was das ist? Ein Pferdefuß.«
Doch jetzt lacht niemand mehr; die Frau schiebt ihre Noten in seinen Stoffbeutel, und Wolf öffnet die Tür zum Arbeitszimmer einen Spalt, um den winselnden Hund zu beruhigen. Auf einer Konsole im Flur steht eine Schale Aprikosen, und Richard steckt sich eine kleine in den Mund, bevor er die Treppe zur Haustür hinuntersteigt, etwas zittrig, Schritt für Schritt. Wolf, dem seine Schultern plötzlich rührend schmal vorkommen, begleitet die beiden bis zur Straße, öffnet ihnen das Gartentor, und der andere mustert ihn noch einmal, während Hannelore sich über die Pfingstrosen des Nachbarn neigt. Bordeauxrot sind sie, zartrosa und auch weiß, und voll aufgeblüht sehen sie aus wie Gefieder am Stiel.
Sie atmet ihren Duft ein, und Richard spuckt den Kern ins Gras. »Erinnerst du dich an unsere Touren durchdie Täler und über die Hochebenen bei Triora? Dieser unglaubliche Himmel, das Fließgras im Wind, die wilden Kirschen – wir haben uns die Bäuche vollgeschlagen, stimmt’s? Ich denke manchmal noch an den Tag, an dem du geweint hast deswegen.« Seine Frau blickt auf, tritt neugierig näher, und er legt ihr einen Arm um die Schultern und sagt: »Ihm sind wirklich die Tränen gekommen, stell dir vor. Als Stadtmensch konnte er es nicht fassen, dass es nirgendwo Zäune gab, dass man einfach so in einen Kirschbaum am Wegrand klettern und diese unglaublich süßen Früchte essen durfte, ohne jemanden zu fragen. Das war wohl ein Hauch von Paradies. Er hat geweint wie ein Kind.« Die Lebensgefährtin scheint gerührt, und auch er lächelt wehmütig, tritt noch einmal an den Zaun und streckt eine Hand vor, so dass Wolf, der vor Staunen einen Moment lang unachtsam ist, sich jäh hart macht, was doch schroff aussieht. Aber der andere will ihn gar nicht umarmen; er tätschelt nur seine Wange und wiederholt etwas leiser: »Wie ein kleines Kind …«
Dann verabschieden sich die beiden, die Schatten der Alleebäume fließen über ihre Kleider, und als sie in die nächste, spitzwinkelig anschließende Straße biegen, kann Wolf noch einmal ihre Gesichter sehen, den alltäglichen Missmut darin, das Erloschene. Aufrecht und ein wenig steif geht die Frau dem leicht hinkenden Mann mit dem geschulterten Stoffbeutel zwei Schritte weit voraus, und dass sie auch jetzt, wo sie ihn aus den Augenwinkeln auf den Eingangsstufen bemerken könnten, nicht noch einmal winken zu einem letzten Gruß, wie es die meisten Davongehenden tun, kommtihm nicht nur wie eine bewusste Grobheit vor; die eigentliche Wahrheit der Stunde liegt darin.
Diesen einstmals bewunderten Mann vielleicht verstehen, in Grenzen achten, ganz gewiss aber nicht lieben zu können schadet ihm schon, das fühlt er deutlich, wie eine bittere Strahlung. Er schließt die Tür von innen, setzt sich an den Schreibtisch, und in einer sternlosen Nacht gegen Ende des Sommers, als seine Gedanken immer noch um ihn kreisen
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