Feuer der Götter: Roman (German Edition)
Strömung zu geraten, die das Kanu auf die andere Flussseite treiben konnte. Als sie das Inselchen nahe dem diesseitigen Ufer erreichte, atmete sie auf. Das Kanu teilte das Schilf und kam knirschend im Sand zu stehen. Naave sprang heraus, zog es ein Stück hoch und stapfte durch das Schilf.
»Tique«, rief sie leise. »Tique! Ich bin wieder da!«
Schnell klopfte sie Schmutz von ihrem knielangen, fadenscheinigen Kittel und kämmte die langen Haare mit den Fingern. Halbwegs ordentlich trat sie vor das Standbild, das sich auf dem höchsten Punkt der Insel befand. Wieder einmal drohte Unkraut die hüfthohe Statue aus verwittertem Gestein zu überwuchern. Mit dem Fischmesser entfernte Naave das lästige Gewächs, bis der lächelnde Gott wieder zum Vorschein kam. Breitbeinig stand er über einer Quelle.
»Tique, ich bin hier, siehst du mich?« Sie stieg in den Bach, schöpfte Wasser und ließ es über die Gestalt fließen, denn vielleicht hatte er ja Durst. »Ich habe dir wieder eine Opfergabe gebracht.«
Sie löste die Schnur und zog die Ringe herunter. Bisher hatte sie ihren Lieblingsgott um Schutz angefleht. Darum, dass er ihr reiche Fischbeute schenkte und sie davor verschonte, erwischt zu werden, wenn sie sich etwas zu essen stahl. Und dass er ihr irgendwann einen Weg aus diesem Dasein zeigte. Nicht, dass alles schlecht war, o nein. Sie mochte den Fluss; sie liebte das Fischen, und gierig nach Besitztümern war sie auch nicht. Aber den Graben, den hasste sie, und der Gedanke, ihr ganzes Leben müsse so armselig bleiben, ließ sie sich so manche Nacht schlaflos von einer Seite auf die andere wälzen.
»Tique, Gott des zehnten Mondes«, betete sie laut. »Wenn Maqo wirklich einen Feuerdämon gesehen hat, dann lass mich ihn fangen. Lass mich die Belohnung gewinnen.«
Als ob ich einen Feuerdämon fangen könnte, dachte sie. Das ist ja schließlich kein Felsentaucher, nicht wahr? Trotzdem ließ sie die Ringe einen nach dem anderen in den Bach fallen. Das Kupfer versank. Im trüben Wasser verriet schwacher rötlicher Glanz, wo sich die Ringe zu all den anderen gesellt hatten. Zwei Hände voller Ringe könnte Naave wieder herausholen – sie würden genügen, um für ein Jahr dem Graben zu entfliehen.
Sie tat es nie.
Die Belohnung des Hohen Priesters wäre auch die des Gottes. Für ihre Treue. Was es wohl war? Unermesslich viel Geld? Ein Haus am anderen Ende der Stadt, im Sonnenviertel, wo die Reichen wohnten? Eine Viehweide? O ja, eine Weide wäre schön. Mit vielen Ziegen und Almaras. Naave würde wunderbare Almarawolle in den prächtigsten Farben herstellen lassen und verkaufen. Die reichen Leute der Stadt würden duftende Kleider aus ihrer Wolle tragen, Naave in ihre traumhaften Häuser mit den künstlich angelegten Badeteichen einladen, Gebäck, Honig und dicke süßsaure Peccafrüchte reichen, und die stattlichen Söhne der Hausherrinnen würden sich nach ihr umdrehen …
Ja, ja. Geh du erst einmal Fische fangen.
Naave küsste die Zehen des Gottes. Dann holte sie den Bogen aus ihrem Kanu, warf sich den Köcher über die Schulter und schlich ans andere Ende der Schilfinsel. Wenn man den Reden ängstlicher Städter Glauben schenken durfte, war hier eine der gefährlichsten Stellen des Flusses. Denn hier gab es eine natürliche Brücke, einen gewaltigen Baumstamm, der aussah, als läge er seit hundert Jahren quer im Fluss. Schäumend und gischtend brach sich das Wasser an ihm. Die Yioscalo-Familie, die reichste und mächtigste der Stadt, hatte einmal befohlen, ihn durchzusägen und wegschaffen zu lassen. Nach einem halbherzigen Versuch, bei dem der Fuß eines Arbeiters gebrochen war, hatte man es aufgegeben – so wichtig war die Sicherheit der Bewohner des Grabens schließlich nicht.
Die Oberfläche des Baums war glatt wie eingeseifter Stein. Naave sagte sich, dass kein Mensch, der bei Sinnen war, dieses Wagnis tatsächlich eingehen würde.
Hier war das Jagdgebiet der Tepehuano. Diese Schlangenart lauerte unter dem Baumstamm auf Fische. Naave hakte die Zugleine in das Ende des gefiederten Pfeils und legte ihn an. Mit der Pfeilspitze teilte sie behutsam das Schilf. Linker Hand flatterte ein Schilfbrüter auf; aus dem Augenwinkel bemerkte sie ein Nest mit drei Eiern. Sie würden gut zum Fleisch einer Tepehuano passen.
Die Sonne glitzerte auf dem grünglänzenden Stamm. Weiße Gischt spritzte hoch auf; Fische sprangen aus dem Wasser. Es zischte und brodelte vor Naaves Augen und in ihren Ohren. Sie gab sich
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