Feuer der Rache
Weg nach Blankenese zu sein, mit der Fähre, dem Wagen oder der S-Bahn -auch wenn sie ursprünglich ein ganz anderes Ziel gehabt hatte.
Wenn wenigstens Ingrid da wäre! Sie vermisste ihre Freundin, die sich mit ihrem neuen Lover für einige Wochen nach Bali abgesetzt hatte. Sie könnte ihr im „Ragazza" helfen. Nicht dass sich Sabine danach sehnte, Sozialarbeiterin für drogenabhängige Prostituierte zu werden. Dennoch wäre das wenigstens eine sinnvolle Beschäftigung, und sie würde von den sich im Kreis drehenden Gedanken abgelenkt werden.
Wieder einmal stand sie am Baurs Park vor dem geschlossenen Eisentor und sah die Auffahrt entlang zu der achtseitigen, weißen Villa, die im hellen Sonnenlicht vor ihr lag. Jedes Detail war ihr inzwischen vertraut: die runden Säulen, die verspielten Gitter der Balkonbrüstung, die umlaufende Balustrade, hinter der sich das flache Dach verbarg. Der Wind wisperte in den Blättern der Bäume. Das Tor war nicht verschlossen. Die Hand auf der Klinke, stand Sabine da.
Dort drinnen lag er irgendwo in einem dunklen Raum, sein Atem war verstummt, der Körper erstarrt. Er konnte sie nicht beobachten, würde nicht plötzlich hinter ihr stehen und sie überraschen. Dennoch war ihr, als flüstere seine Stimme in ihrem Kopf: Ja, komm zu mir, genieße die Kühle des Gartens, berausche dich an dem weiten Blick über die Elbe, und dann tritt ein und lass dich nieder. Schlafe, bis die Sonne versinkt, dann werde ich dich wecken.
Sabine schüttelte energisch den Kopf und ließ die Klinke los, als habe sie sich die Finger verbrannt.
Er war ein Teufel, ein Dämon, wie sie in mittelalterlichen Geschichten beschrieben wurden. Und nun saß er in ihrem Kopf und zerstörte ihren Verstand. Sie hatte ein ganz normales Leben geführt, bis ihr der Vampir bei ihrem letzten Fall in die Quere gekommen war. Er hatte sich in ihr Leben eingemischt und ihren Geist in vergangene Zeiten entführt. Immer wieder fand sie sich plötzlich an anderen Orten wieder und konnte sich nicht erinnern, wie sie dorthin gekommen war. Ganze Abende waren wie ausgelöscht. Nur nebelhafte, verwirrende Erinnerungen, die nicht ihre eigenen sein konnten, blieben zurück. Eine Weile hatte sie der unheimliche Verdacht bedrängt, sie würde langsam verrückt.
Inzwischen glaubte sie das Unglaubliche. Aber wie konnte sie es zulassen, dass ein Psychiater in ihren Erinnerungen herumstocherte? Was würde er mit ihr machen, wenn er diese Gedanken fand?
Vielleicht war es richtig, dass Tieze sie von den Kollegen fernhielt. War sie denn noch eine Kriminalbeamtin, auf deren Urteilsvermögen man sich verlassen konnte? Würde sie in kritischen Situationen einen kühlen Kopf bewahren und richtig entscheiden, oder war sie zu einer Gefahr für die ganze Gruppe geworden?
Panik stieg in ihr auf. Sie sah sich in einem Bett mit Gittern, die Arme an die Stäbe gefesselt. Auch vor dem Fenster unterbrachen dicke Streben das Tageslicht. Sabine fuhr herum und rannte los. Sie überlegte nicht, wohin, sie wusste nur, dass sie weit weg von diesen unheilvollen Gedanken wollte. Ohne innezuhalten, lief sie den Weg den Geesthang hinunter, bis der düstere Wald am Strandweg hinter ihr zurückblieb.
Es war ein ganz normaler Frühlingstag. Wolken jagten über den Himmel, die Sonne blitzte immer wieder zwischen ihnen hindurch, ein paar Segel glitten über die Elbe, Spaziergänger mit Hunden schlenderten den Strandweg entlang.
Sabine schämte sich ein wenig. Was sollte sie nun tun? Und so landete sie zum dritten Mal in dieser Woche an Rosa Maschecks Küchentisch. Heute hatte die alte Dame Sandkuchen gebacken, von dem sie ein Stück mit eingekochten Kirschen und einem Berg Schlagsahne auf Sabines Teller legte.
„Sie machen mir Sorgen", sagte Frau Mascheck und runzelte die ansonsten noch glatte Stirn. „Es fühlt sich an, als gäbe es eine finstere Kammer tief in Ihnen, die Ihnen großen Kummer bereitet. Statt sich dem Schmerz zu stellen und ihn zu überwinden, vergraben Sie ihn immer tiefer. Doch wir können nicht vor uns selbst davonlaufen. Wenn wir die dunklen Kammern nicht finden und sie erhellen, zerstören sie uns von innen heraus."
Sabine schwieg und stocherte in ihrem Kuchen herum.
Rosa Mascheck presste die Lippen zusammen. Ihr Blick huschte zwischen ihrem Teller und Sabine hin und her. Offensichtlich rang sie mit einer Entscheidung, aber erst als Tassen und Teller geleert waren, sprach sie wieder.
„Es ist nun schon so viele Jahre her, dass mein Sohn
Weitere Kostenlose Bücher