Feuer der Rache
rann ihm über Kinn und Hals, während er gierig weitertrank.
Ein einfahrender Zug ließ den Boden erzittern. Bremsen kreischten, Türen öffneten sich, Stimmen wanderten den Bahnsteig enüang. Für einen Moment fühlte sich der Vampir aus seinem Blutrausch gerissen, doch dieser Augenblick reichte aus, dass sich seine Vernunft Gehör verschaffen konnte.
Sie hat dich weggeschickt, ja. Sie hat gesagt, dass sie dich nicht mehr sehen will und es keine Hoffnung für dich gibt, aber ist das Grund genug, all das wegzuwerfen, was du dir über Jahrhunderte mühevoll erarbeitet hast? Willst du für ein paar Stunden gnädigen Vergessens im Rausch des Blutes alles aufgeben? Sie werden dich jagen, und sie werden dich in deinem Versteck aufstöbern. Dies sind nicht mehr die Zeiten, da ein paar unerklärliche Leichen mit einem Schulterzucken begraben und vergessen werden. Peter von Borgo dachte an sein Versteck in der Speicherstadt, deren Gerüche er so liebte, und an seine prachtvolle Villa über dem Geesthang in Blankenese. Zweihundert Jahre genoss er die Ruhe so nah an dieser pulsierenden Stadt voller Menschen nun schon. Nein, er würde das nicht alles aufgeben!
Der Vampir löste seine Zähne aus dem Fleisch des Mannes, dessen Körper wie eine Stoffpuppe in sich zusammensank. Peter von Borgo beugte sich hinab und nahm seine Hand. Der Puls war schwach. Er hatte viel Blut verloren, aber vermutlich nicht zu viel. Irgendwann im Laufe des Tages würde er erwachen, verwirrt und schwach, ohne sich an die nächtlichen Ereignisse erinnern zu können, aber immerhin am Leben.
Der Vampir packte den Mann an seiner Uniformjacke und zog ihn mühelos mit einer Hand hoch. Schritte näherten sich. Stimmen schallten zu ihm herüber. Rasch klemmte er den leblosen Körper unter den Arm, trug ihn zu einer der Toiletten, schob ihn in eine Kabine und verschloss sie von innen. Als Nebel wogte er unter der Tür hindurch, verwandelte sich wieder und verließ gemessenen Schrittes den Bahnhof.
Der Ostersamstag begann trocken und warm. Am Nachmittag fuhren Mutter und Tochter mit der U-Bahn zu den Landungsbrücken und nahmen dann eine Fähre nach Finkenwerder und weiter über den Anleger Teufelsbrück nach Blankenese. Julia jauchzte und lief oben auf Deck von einer Reling zur anderen, damit sie ja nichts verpasste.
„Mama, da sieh, das kleine Boot mit dem roten Segel! Und da vorn kommt ein ganz großer Dampfer. Und da! Siehst du den Leuchtturm?"
Sabine gab die passenden Kommentare ab und folgte ihrer Tochter von der einen Schiffsseite zur anderen und wieder zurück. Längst hatte Julia vergessen, dass sie ja eigentlich schmollen wollte, da sich die Mutter geweigert hatte, Leila zu diesem Ausflug mitzunehmen.
In Blankenese angekommen, bekam Julia auf der Terrasse des Strandhotels einen Kakao und ein Stück Rührkuchen. Mit offenem Mund sah sie den vielen Helfern der freiwilligen Feuerwehr zu, die nahe am Wasser einen der riesigen Scheiterhaufen errichteten, die in dieser Nacht Tausende von Besuchern zwischen Övelgönne und Blankenese an den Strand locken würden.
Nachdem sich Julia die Krümel vom Mund gewischt und Sabine bezahlt hatte, schlenderten die beiden weiter den Strandweg enüang, bis sie die letzten Blankeneser Häuser hinter sich gelassen hatten und durch ein Tor den Weg am Fuß des Baurs Park betraten. Das schmiedeeiserne Geländer, das den Park vom Uferstreifen trennte, zeugte noch von der Herrlichkeit alter Zeiten. Sabine versuchte sich vorzustellen, wie der Park damals wohl ausgesehen hatte. Waren seine steilen Geesthänge auch schon so düster von Wald und dichtem Unterholz bewachsen gewesen? Oder zeigte er sich damals prächtig gepflegt, wie heute noch der obere, flache Teil, mit weitläufigen Rasenflächen, Rosenbeeten und einzelnen, ausladenden Bäumen? Sie malte sich die Menschen aus, die hier in den Villen gelebt hatten oder mit der Kutsche zu einem Spaziergang aus dem eng verbauten Hamburg herübergefahren waren. Damen mit langen Röcken und Sonnenschirmen zum Schutz ihrer blassen Haut, Herren in Weste und Gehrock, den Zylinder auf dem Kopf. Es waren die, die es geschafft hatten: Reeder, Kaufleute, Bankiers. Der Geburtsadel spielte in Hamburg keine Rolle.
War das Leben damals für eine Frau einfacher gewesen? Zumindest hatten klare Verhältnisse geherrscht. Die Frau war für das Haus und die Kinder zuständig, der Mann brachte das Geld rein. Man ließ sich nicht einfach scheiden -und die Frauen mussten die Mätressen ihrer
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