Feuer der Rache
die Welt erstarrt.
Die Welt IST erstarrt! Die Jungen lachen und reden nicht mehr, ihre Hände liegen schlaff auf ihrem Busen und den Schenkeln, und auch der feste Griff um ihre Arme hat sich gelockert.
Aletta hat Angst vor dem, was sie sehen wird, wenn sie die Augen öffnet, aber schließlich hält sie es nicht mehr aus und blinzelt kurz.
Rote Augen. Sie sieht eine große, schwarze Gestalt mit roten Pupillen. Aletta reißt die Augen auf und starrt den Fremden an. Diese seltsame Kälte umgibt ihn wie ein unsichtbarer Mantel. Kalt und böse, und doch bringt er ihr Hoffnung.
Er streckt den Arm aus und winkt leicht mit den Fingerspitzen.
Aletta streift die Hände ab, die sie festgehalten haben und nun wie leblos herabfallen. Sie bückt sich und zieht ihre Hose hoch.
Sie hat dieses Wesen schon einmal gesehen -schon einmal gefühlt -, Vorjahren, als sie mit der Mutter an der nächtlichen Elbe spazieren gegangen ist. Was will er hier? Warum taucht er gerade jetzt auf? Ist er ihre Rettung, oder gerät sie geradewegs in eine noch viel schlimmere Gefahr?
Aletta wirft einen raschen Blick zu ihren Peinigern zurück. Sie stehen nur da und starren wie hypnotisiert auf den Fremden, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist.
„Du bist anders", sagt die Gestalt mit angenehm tiefer Stimme. „Ich beobachte dich schon länger. Du gefällst mir. Es wäre schade, so etwas von diesem Pack zerstören zu lassen."
Er nickt verächtlich in Richtung der Jungen, die sich noch immer nicht rühren.
„Was sind Sie?", stottert Aletta.
Der Fremde lacht leise. „Eine gute Frage, mein Kind. Jede andere hätte ,Wer sind Sie?' gesagt. Meinen Instinkten kann ich vertrauen. Es hat sich gelohnt, einzugreifen."
Er nimmt sie an der Hand. Aletta schaudert. Wie kalt sie sich anfühlt, als wäre es die Hand eines Toten. Erführt sie ein Stück weg.
„Warte hier auf mich!"
Sie rührt sich nicht. Sie kann sich gar nicht rühren. Was tut er da? Es ist zu dunkel, um es zu erkennen, aber es dauert nicht lange, da steht er wieder vor ihr. Als er ihre Hand nimmt, ist sie nicht mehr ganz so kalt wie vorher.
„Sie werden dir nichts mehr tun", sagt er, und Aletta glaubt ihm. Ihre Sinne sind seltsam verändert. Sie spürt den Boden kaum, über den sie geht, und doch fühlt sie sich wacher als sonst. Sie hat das Gefühl, besser zu hören und zu riechen. Die Eindrücke stürzen auf sie ein. Hilfe suchend klammert sie sich an die Hand mit den seltsam langen, spitzen Fingernägeln.
„Warum haben Sie mir geholfen?", fragt sie.
Er lacht leise. „Ist das nicht normal? Jemandem zur Hilfe zu eilen, der in Not ist?"
„Für einen normalen Menschen, ja, aber Sie sind ein böses Wesen!"
Sie sagt es mit einer solchen Bestimmtheit, dass sie sich über sich selbst wundert. Seine Augen verengen sich. Jetzt wird er über sie herfallen und sie töten.
Nein, er geht weiter, ihre Hand fest in der seinen. Er sieht nachdenklich aus. Als sie das heimische Gartentor erreichen, wird es Aletta ganz leicht ums Herz. Dieser Tag wird doch noch ein gutes Ende nehmen.
„Es tut mir leid", stottert sie. „Ich habe mich geirrt. Ich wollte Sie nicht beleidigen. Sie sind gar nicht böse."
Er beugt sich vor. „ Vertraue immer deinen Sinnen!", flüstert er. Dann spürt sie einen Stich an ihrem Hals. Ihre Beine fühlen sich so weich an, aber er hält sie umschlungen, sodass sie nicht zu Boden fallen kann. Nun versinkt die Welt in einem wirbelnden Nebel, der nur noch von diesen roten Augen durchdrungen wird. Irgendwann lässt er sie los und gibt ihr einen kleinen Schubs. Schmutzig, den Hals von Blut verschmiert, taumelt Aletta ins Haus.
„Vielleicht ist es besser, wenn ich mich von dir fernhalte, seltsames Mädchen", murmelt der Vampir, während er ihr nachsieht. „Du könntest mir gefährlich werden. Schade. Du warst mal etwas anderes."
Aletta liegt wach in ihrem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und sieht an die Decke. Im Haus ist es noch still, obwohl es schon lange hell ist. Es ist Sonntag. Sicher schlafen die Eltern noch. Bewegungslos bleibt sie liegen, der Blick ist starr in die Ferne gerichtet. Die Erinnerung an den vergangenen Abend drängt mit Gewalt in ihre Gedanken. Sie ist entkommen! Und doch weiß sie, dass sie diesen Augenblick der Todesangst niemals vergessen wird. Noch einmal breitet sich das Gefühl des Ausgeliefertseins in ihr aus. Es ist dieser Moment, an dem man nichts mehr für sich tun kann. In dem man nur noch zusehen kann, wie andere das eigene
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