Feuer der Rache
der Kleiderschrank und ein Regal, das sich unter zerfledderten Taschenbüchern bog. Krimis, wie Sabine schon wusste: Agatha Christie, Edgar Wallace, Elizabeth George, P. D. James, Minette Walters, Val McDermid und andere. In Maikes Zimmer herrschte die gleiche Unordnung wie auf ihrer Seite im Bad: Kleidungsstücke lagen achtlos auf dem Boden und auf dem ungemachten Bett, CDs und Kassetten türmten sich neben einer alten Stereoanlage, die Schranktüren standen offen, Schokoladenpapiere und Kekskrümel tummelten sich auf dem überladenen Schreibtisch. Dazwischen lagen zwei Zeitschriften, die mit dem Kindesmisshandlungsfall ihre Leser anzulocken versuchten. Auf dem Tisch fand sie die Spielkarten vom Freitag, zwei leere Chipstüten, drei Gläser mit Getränkeresten und den Spielblock, auf dem ordentlich das Datum und die Punkte notiert waren. Sabine reckte den Hals. Anscheinend hatte Aletta an diesem Abend gewonnen, nachdem Carmen kurz vor Schluss in einem Spiel über zweihundert Punkte verloren hatte. Vergangene Woche war Maike die Siegerin gewesen.
Die Kommissarin schloss die Tür hinter sich und betrat Iris' Zimmer, das um einiges kleiner war. Eine eigene Welt, ging es Sabine durch den Kopf. Weiß und rosa, mit Rüschen und Schleifen, Teddybären und Porzellanpuppen. Acht Stofftiere saßen auf der mit Rosen bestickten Tagesdecke. Die Puppen hatten in einem etwas ramponierten weißen Rattansessel Platz genommen. Getrocknete Blumensträuße waren an der Wand befestigt und zwei Poster mit Sonnenuntergängen, vor denen sich die Schattenrisse von Liebespaaren abzeichneten. Es war das Zimmer einer Vierzehnjährigen, nicht das einer vierundzwanzigjährigen Frau! Das passte alles nicht!
In ihren Gedanken sah Iris wie auf dem alten Schülerfoto aus: ein Kind, klein, schmächtig, unauffällig, dabei war sie erwachsen und inzwischen fast so groß wie Aletta! Warum fiel es ihr so schwer, sich Iris so vorzustellen? Weil sie unauffällig war? Weil sie ihr Zimmer wie ein Kind eingerichtet hatte? Oder lag es an der Art, wie die Menschen, die sie kannten, über sie sprachen? Jeder entwarf ein anderes Bild, als würden sie von verschiedenen Menschen sprechen. Es war, als sehe Sabine in einen Zerrspiegel. Wenn sie den Fokus nur ein wenig veränderte, entstand eine ganz neue Person. Selbst in diesem Zimmer gab es Unstimmigkeiten, die nicht in das Gesamtbild passen wollten.
Sabine trat an den billigen Kieferschreibtisch, der neben der Tür stand. Die Schublade war schief hineingeschoben worden, die rechte Tür stand ein wenig offen, und auch die Schiebetür des halbhohen Schränkchens an der Wand daneben war nicht ganz geschlossen. Papiere, Briefe und Bücher lagen unordentlich auf der Schreibunterlage. Sabine schob den Haufen ein wenig zur Seite. Das oberste Blatt der Schreibunterlage war mit roten Herzen und kleinen Figuren verziert. Es waren Kinder, Mädchen in Rüschenkleidern und Jungen in ordentlichen Anzügen. Sie hielten einander an den Händen. Die Gesichtszüge konnte Sabine nicht erkennen, denn die Zeichnungen waren mit einem schwarzen Filzstift übermalt worden. Zerstörerisch begruben die gezackten Linien die rosarote Idylle.
Sabine wandte sich wieder dem Bett zu. Auf dem Nachttisch standen zwei Fotos in Silberrahmen. Auf einem war Maike zu sehen, auf dem anderen die vier Freundinnen zusammen. Beide Aufnahmen mussten zehn oder zwölf Jahre alt sein. Vier hübsche, strahlende Mädchen, an der Schwelle zur Frau.
Schritte erklangen auf der Treppe, die Tür flog auf. „Großmutter sagte, Sie wären hier", begrüßte Maike die Kommissarin. „Was gibt es noch? Sie haben Iris' Zimmer doch schon einmal untersucht. Glauben Sie, Sie finden hier etwas, das Ihnen sagen kann, wo meine Schwester ist?"
„Ich versuche, Ihre Schwester kennenzulernen, sie zu verstehen, mich in sie hineinzudenken, um dann vielleicht auch ihre Handlungen nachvollziehen zu können."
Maike schnaubte abfällig, und Sabine war sich sicher, das Wort „Blödsinn" gehört zu haben.
Die Kommissarin deutete auf die Schreibtischecke. „Haben Sie dort etwas gesucht oder weggenommen?"
„Ich? Nein, was sollte ich mit Iris' Sachen?"
„Vielleicht haben Sie ebenfalls versucht, nach ihrem Verschwinden einen Hinweis zu finden, wo sie sein könnte?"
„Quatsch. Das hieße ja, dass sie sich freiwillig davongemacht hat." Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah die Kommissarin herausfordernd an.
„Und Ihre Freundinnen? Aletta oder Carmen? Könnten die hier
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