Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
alter Schlager, der den Sommer bejubelt, plärrt aus den Lautsprechern, die in die Wände eingebaut sind. Mama fängt an, den Pfannkuchenteig zu rühren – mit derselben zornigen Energie, mit der sie eben noch Unkraut gerupft hat.
Ida geht nach draußen, holt ihr Fahrrad aus der Garage und schiebt es durch den Garten. Als sie an ihren kleinen Geschwistern vorbeigeht, sagt sie:
»Trampolinspringen macht inkontinent.«
»Was heißt das?«
»Das wirst du dann schon merken«, sagt Ida.
Vanessa wird davon wach, dass Melvin irgendwo in der Wohnung schreit. Sie setzt sich auf und die Kopfschmerzen schlagen Purzelbäume unter ihrer Schädeldecke. Die Rollos sind runtergelassen, im Zimmer ist es dämmrig.
Sie steht mit wackeligen Beinen auf und begutachtet sich selbst in dem Ganzkörperspiegel, der an der Wand lehnt.
Ihre Augen sind rot. Die Reste ihres Make-ups haben sich mit Schweiß vermischt und Streifen auf ihren Wangen hinterlassen. Als sie sich mit der Zunge über die Zähne fährt, fühlt sich der Belag wie ein Filzteppich an. Auch der dunkle Haaransatz sieht schlimmer aus als sonst, ihre Haare sind total zerzaust und verschwitzt. Außerdem tut ihr aus unerklärlichen Gründen der rechte große Zeh weh.
Vanessa nimmt ihren Morgenmantel vom Schreibtischstuhl und macht das Radio an. Ein hysterischer Dance-Song füllt den Raum. Zusammenhanglose Erinnerungen an die Nacht blitzen auf und ziehen vorbei. Sie haben Wahrheit oder Pflicht gespielt und sie hat Evelina geküsst. Michelle stand in Jontes Küche und heulte wegen Mehmet. Vanessa und Wille hatten Sex auf der Tischtennisplatte. Und jetzt weiß sie auch wieder, warum ihr Zeh wehtut. Sie ist über den Staubsauger in der Diele gestolpert, als sie heute Nacht nach Hause gekommen ist.
Vanessa fährt sich mit den Fingern durch die Haare und bindet sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann holt sie tief Luft, öffnet die Tür und geht in die Küche.
Mama und Nicke sitzen am Tisch und trinken Kaffee. Vanessas kleiner Bruder Melvin liegt nackt auf dem Fußboden. Sein Gesicht ist ganz rot, so wie immer, wenn er einen Wutanfall hatte. Neben ihm liegt der Schäferhund Frasse und lässt die Zunge fast bis auf den Boden hängen.
»Guten Morgen«, sagt Vanessa.
Nicke schaut von den
Engelsfors Nachrichten
auf und trinkt einen Schluck Kaffee. Sie wird das Gefühl nicht los, dass er ein gehässiges Grinsen hinter der Tasse versteckt.
»Wenn man das noch Morgen nennen kann«, sagt er.
Vanessa wirft einen Blick auf die Uhr. Nicht mal halb elf.
»Du siehst müde aus«, sagt Nicke.
»Wie soll man bei der Hitze auch schlafen.«
Er lässt die Tasse sinken. Eindeutig ein gehässiges Grinsen. Hat er gehört, wie sie über den Staubsauger gestolpert ist? Aber dann fällt ihr wieder ein, dass Nicke diese Woche Nachtdienst hat. Er ist erst vor wenigen Stunden nach Hause gekommen.
Seit Vanessa wieder bei ihrer Mutter eingezogen ist, haben sie und Nicke, so gut es eben geht, versucht, sich gegenseitig zu respektieren. All das Unausgesprochene liegt zwischen ihnen wie ein Minenfeld, aber ihre Schritte sind vorsichtig, jeder wartet den Zug des anderen ab. Vanessa tut so, als würde sie Mamas und Nickes Regeln befolgen. Und Nicke tut so, als würde er ihr das glauben. Aber Vanessa weiß, dass er nur auf die Gelegenheit wartet, ihr etwas anzuhängen, ganz der Bulle, der er ist.
Melvin jammert ein bisschen, als wollte er alle darauf aufmerksam machen, dass er auch noch existiert.
»Was ist mit Melvin?«, fragt Vanessa.
»Er will sich nicht anziehen«, seufzt Mama und betastet die Tätowierung an ihrem Oberarm, eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt. »Irgendwann habe ich aufgegeben, ich kann ihn ja verstehen. Ich würde bei diesen Temperaturen auch lieber nackt rumlaufen.«
»Ich hätte nichts dagegen«, sagt Nicke feixend.
Mama kichert. Vanessa verdreht die Augen.
»Was hast du heute vor?«, fragt Mama.
»Ich treffe mich mit Michelle und Evelina am Dammsee.«
»Und Wille kommt nicht mit?«, fragt Nicke unschuldig.
»Doch, kommt er«, sagt Vanessa und lächelt routiniert, während sie gleichzeitig denkt: Stirb, stirb, stirb, du elender Versager. »Ich gehe jetzt duschen.«
Sie genießt die kühle Dusche ausgiebig, putzt sich die Zähne und wäscht sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Nimmt ein paar Kopfschmerztabletten. Als sie in ihr Zimmer kommt, schwitzt sie zwar schon wieder, aber nachdem sie sich geschminkt hat, sieht sie wenigstens einigermaßen menschlich
Weitere Kostenlose Bücher