Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
mir sicher, du hast dasselbe gefühlt. Du musst wahnsinnige Angst gehabt haben.
Hätten wir nur miteinander geredet, unsere Geheimnisse geteilt, dann wäre vielleicht alles ganz anders gekommen.
Wärst du nur nicht hier geboren worden, in dieser verdammten Scheißstadt.
Dann würdest du vielleicht noch leben.
Ich weiß, dass es nichts bringt, so zu denken, aber ich kann nicht anders.
Ich schreibe Listen mit kleinen Details, die dich ausgemacht haben.
Wie du immer die sauren Gurken vom Veggie-Burger run
tergesammelt hast und ich nie kapiert habe, warum du nicht einfach einen ohne bestellst. Dass Poppy Z. Brite, Edgar Allan Poe und Oscar Wilde deine Lieblingsautoren waren. Ich unterstreiche die Absätze, die du mir nachts am Telefon vorgelesen hast. Du hast mir versprochen, dass wir zusammen nach Japan fliegen, noch bevor wir dreißig sind. Einmal hast du gesagt, wenn du ein Mädchen wärst, wolltest du Lucretia heißen. Wie bist du darauf gekommen? Du hast dich nie in echte Berühmtheiten verliebt, sondern nur in erfundene Personen wie Misa Amane, obwohl sie so dermaßen nervig ist, oder in Edward mit den Scherenhänden. Und ich musste dir versprechen, dass ich dich nie vergessen werde, falls du vor mir stirbst. So verdammt typisch bescheuert von dir. Als ob ich dich je vergessen könnte.
Du bist mein Bruder, mein Seelenverwandter. Ich liebe dich für immer.
Vorsichtig reißt Linnéa die Seite aus ihrem Tagebuch und faltet sie zusammen. Dann gräbt sie ein kleines, aber tiefes Loch in die trockene Erde unter dem Rosenbusch neben Elias’ Grabstein. Die weißen Rosen sind schon verblüht und die Blätter haben hässliche, vertrocknete Ränder. Sie legt den gefalteten Zettel hinein. Beerdigt ihn. Reibt sich die Hände an ihrem schwarzen Rock ab und bleibt sitzen.
Zwischen den alten Linden auf der anderen Seite des Friedhofs kann man das Pfarrhaus sehen. Linnéa schaut zu dem Fenster, das zu Elias’ Zimmer gehörte. Der leuchtend blaue Himmel spiegelt sich in der Scheibe. Elias liebte diesen Blick auf den Friedhof. Was, wenn er gewusst hätte, dass er auf seine zukünftige Grabstätte sah?
Kein Lüftchen regt sich, die Sonne brennt und heizt die Grabsteine auf. Das Gras ist gelb und die Erde ist ganz trocken und rissig. Im Juni berichteten die
Engelsfors Nachrichten
noch euphorisch über den Rekordsommer. Jetzt im August gilt der Rekord den Alten, die an Austrocknung sterben, und den Bauern, deren Wirtschaftsgrundlage zerstört ist.
Ihr Handy klingelt, aber Linnéa kann sich nicht mal überwinden draufzuschauen. Olivia, die einzige Freundin, die ihr aus der alten Clique noch geblieben ist, hat sie schon den ganzen Vormittag mit SMS bombardiert. Die Ferien über hat Olivia sich nicht ein Mal gerührt, aber jetzt, wo es ihr gerade passt, erwartet sie, dass Linnéa sofort springt. Linnéa hat ganz sicher nicht vor, ihr zu antworten.
Sie nimmt ihre Wasserflasche aus der Stofftasche, schraubt den Deckel ab. Egal, wie viel sie trinkt, hinterher ist sie noch genauso durstig. Den letzten Schluck gibt sie dem Rosenbusch.
Sie packt die Flasche wieder ein und nimmt die beiden roten Rosen, die sie im Storvallspark aus einem Beet geklaut hat. Sie welken schon. Die eine legt sie auf Elias’ Grab. Dann steht sie auf und legt die andere auf das Grab daneben – auf dem Stein steht Rebeckas Name.
Linnéa schaut wieder zu Elias’ Grab. Anfangs hoffte sie, auch die Gedanken der Toten zu hören. Kontakt zu ihnen aufnehmen zu können. Aber bislang ist es ihr nicht gelungen aufzuschnappen, was sie denken, oder herauszufinden, ob sie überhaupt noch da sind.
Früher dachte Linnéa, dass einfach alles zu Ende ist, wenn man stirbt. Jetzt weiß sie zumindest, dass es Seelen gibt.
Sie sind dort, wo sie hingehören
, hat Minoo gesagt, als sie sich nach dem Abschlussfest hier an den Gräbern versammelten.
Linnéa hofft, dass es stimmt. Dass Elias noch irgendwo ist, an einem besseren Ort.
Sie denkt daran, wie Max im Speisesaal auf sie eingeredet hat, als er versuchte, sie dazu zu bringen, die anderen Auserwählten zu verraten.
Elias wartet auf dich, Linnéa.
Ein kleiner Teil von ihr fände es verlockend zu erfahren, ob der Verbündete der Dämonen die Wahrheit gesagt hat.
Ihr könnt endlich wieder zusammen sein.
Sie kann die Tränen nicht mehr länger zurückhalten. Sie lässt sie einfach fließen, während sie sich umdreht und weggeht. Scheißegal. Wo sonst sollte es erlaubt sein zu weinen, wenn nicht auf einem
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