Feuer: Roman (German Edition)
in der sich Wasser gesammelt hatte, schon fast so etwas wie ein kleiner unterirdischer See. Der Anblick traf Will wie ein Schlag. Er hätte in diesem Moment noch nicht einmal genau sagen können, was er in ihm auslöste. Vielleicht, weil die Reaktion aus einer Region kam, die tiefer lag als jeder bewusste Gedanke, tiefer sogar als dort, wo in ihm die verschiedensten Gefühle miteinander rangen. Es hatte nichts mit Verstand oder Seele zu tun, sondern mit dem ältesten Antrieb aller höher entwickelten Kreaturen: mit Instinkt. Es war ein gieriges Kribbeln, das er in sich spürte, den Drang, loszulaufen, um zum Mittelpunkt der Höhle vorzustoßen und sich dort hineinzuschmeißen, wo jetzt Wasser in der uralten Senke stand; vielleicht nicht mehr als der Instinkt einer Biene, die auf gleiche Weise zu ihrem Stock zurückgetrieben wurde, um ihren Honig abzuliefern, aber genauso mächtig und drangvoll.
Reimann, der auf den letzten Metern zunehmend mehr Kraft hatte aufwenden müssen, um ihn zu stützen, gab einen überraschten Laut von sich, als Will seine Hand mit einer energischen Bewegung abstreifte und aus eigener Kraft auf die Senke zuzuhumpeln begann.
Als Will näher kam, konnte er mehr Einzelheiten ausmachen. Das Wasser, das sich dort gesammelt hatte, wo der tiefste Punkt der Höhle lag, war nicht schwarz oder blau, und schon gar nicht war es brackig oder abgestanden. Es war golden, türkis, unnatürlich schimmernd, ein wunderschöner Anblick, der als Highlight in jeden Reiseprospekt gepasst hätte. Selbst unter den wallenden Nebeln sah Will, dass die Oberfläche dalag, als wäre sie aus einem einzigen Stück gegossen und geschmiedet, vollkommen ruhig und ohne den geringsten Hauch einer Bewegung oder gar einer Welle. Und doch war da etwas in diesem Wasser, das ihn in Unruhe versetzte, ihn magisch anzog.
»Hier ist der Ort, wo die Macht des Feuers geboren wurde«, sagte Georg ruhig. »Der Ort, von dem alles ausging – und von dem gerade heute das ausgeht, was die Stadt über uns in Schutt und Asche zu verwandeln droht. Und ganz nebenbei gesagt: auch uns, wenn wir nicht aufpassen.«
Will blieb wieder stehen und nickte. Das passte. Nur am Rande bekam er mit, dass auch Reimann neben ihn getreten war und dastand, als erwarte er jeden Moment den endgültigen Zusammenbruch Wills und als müsse er ihn dann rasch auffangen.
»Einst«, fuhr Georg fort, als er auf die andere Seite neben Will trat, »stand hier eine Schmiede.«
»Eine Schmiede?«, murmelte Reimann ungläubig. »Warum sollte man denn in einer Höhle eine Schmiede einrichten?«
Georg seufzte, und es klang wie der ungeduldige Laut eines Vaters, der seinem Sprössling zum wiederholten Male die gleiche Geschichte erzählen muss. »Es war ein Versteck. Über uns, dort, wo später Menschen lebten und sich Köln Schicht für Schicht aus dem Schlamm der Urgeschichte erhob, war einst ein Tal. In diesem Tal gab es eine kleine Ansiedlung, die sich um eine Schmiede gruppierte.«
»Und dann hat später jemand die Schmiede gepackt und in dieser Höhle versteckt?«
»Nein«, antwortete Georg fast sanft. »Die oberirdische Schmiede war kaum mehr als ein Täuschungsmanöver. Auch wenn in ihr meist geschäftiges Treiben herrschte, weil dort das Alltagsgeschäft abgewickelt wurde, hatte sie nichts mit dem Drachenfeuer zu tun, oder jedenfalls nicht viel. Die alten Überlieferungen berichten, dass hier unten, an dieser uralten Feuerstelle, der Ort war, an der vor unvorstellbar langer Zeit zum ersten Mal willentlich ein Feuer entzündet wurde. Es war die Geburtsstunde der Menschwerdung. Die Nutzbarmachung des Feuers war der entscheidende Punkt, der den Menschen vom Tier erhob und zu dem machte, was er heute ist.«
»Diese These ist mir nicht ganz neu«, sagte Reimann säuerlich. Er fuhr sich mit einer fast ärgerlich wirkenden Geste durch die verschwitzten Haare und drehte sich einmal halb um die eigene Achse und atmete dann tief aus. »Aber dass an diesem Ort einst eine Schmiede gestanden hat, war mir gegenüber wohl keiner Erwähnung wert. Bergmann hat mir jedenfalls nichts davon erzählt.«
»Bergmann kümmert sich ja auch um andere Dinge«, sagte Georg.
»Ich weiß ganz genau, worum sich Bergmann kümmert«, murrte Reimann »Ich war oft genug dabei, das Tunnelsystem und die Brandlöcher zu erforschen …«
»Die Auswirkung dessen, was sich ohne das Drachenfeuer niemals zu einer wirklichen Gefahr hätte auswachsen können«, unterbrach ihn Georg, ohne auch nur einen
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