Feuer: Roman (German Edition)
waren. Und wie viele von ihnen haben Sie auf dem Gewissen, Wieland? Sagen Sie mir es? Wie viele?«
Die Wucht der Anklage überraschte Will, und Georg machte eine ganz leichte Bewegung. Es sah aus, als verlagere er das Gewicht, um im nächsten Moment auf ihn zuzuspringen.
Will spürte, dass er die Kontrolle über die Situation zu verlieren begann. Dazu passte, dass er Georg viel zu lange aus den Augen ließ, weil er sich anstrengte, in dem schlechten Licht genauer in Reimanns Gesicht zu lesen.
Im selben Moment bückte sich Georg.
Hätte Georg eine andere Bewegung gemacht, wäre Will vorgesprungen: In all diesen Fällen hätte Will wohl ganz instinktiv den Elektroschocker gegen seinen Körper gedrückt und ihn so oft wie möglich hintereinander ausgelöst. Aber so war er einfach nur verblüfft.
Seine Verblüffung schlug in Entsetzen um, als er sah, was Georg mit der nächsten Handbewegung hochbrachte. »Hier«, rief Georg. »Du hast noch etwas vergessen. Das pochende Herz.«
Er streckte die Hand vor. In ihr lag etwas Blutiges, Tropfendes, etwas von der Form einer verschrumpelten Artischocke, etwas, das vor kurzem noch Leben gespendet hatte.
Will war unfähig, sich zu rühren. Es kam ihm wie ein billiger Taschenspielertrick vor, dass Georg ihm nun ausgerechnet hier das präsentierte, wovor er den größten Abscheu hatte. Der Anblick selbst war bereits etwas, das ihn vollkommen überforderte. Aber noch schlimmer war das, was Georg im nächsten Augenblick tat.
Er griff nach Wills waffenfreier Hand, öffnete sie. Will ahnte, was er vorhatte, aber er war wie gelähmt, absolut unfähig, sich dagegen zu wehren – oder in diesem Moment den Abzug der Waffe durchzuziehen.
Da vollendete Georg auch schon das, was er schon lange vorher geplant haben musste: Er klatschte das blutige Organ in Wills Hand.
Es war ein unvorstellbar ekelhaftes Gefühl. Einen Herzschlag lang drohte das glitschige Ding aus seiner hohlen Hand zu rutschen, bevor er in einer automatischen Reaktion die Finger um es schloss. Es war klebrig, warm, und auf eine verrückte Art schien noch Leben in ihm zu sein, denn er glaubte etwas wie ein Zucken und Beben zu spüren. Sein Magen revoltierte, und er konnte – nicht eingebildet, sondern tatsächlich – spüren, wie sich jedes einzelne Haar auf seinem Kopf aufstellte. Es war wie ein elektrischer Schlag, purer Ekel, der durch seine Hand pulsierte und überall zugleich in seinem Körper zu explodieren schien, aber er ließ das Ding in seiner Hand nicht los, sondern hielt es im Gegenteil so fest umklammert, als hinge sein Leben davon ab, es unter keinen Umständen mehr herzugeben.
Zwei, drei dunkelrot schimmernde Tropfen rannen sein Handgelenk hinab, aber er merkte es erst, als sie hinabfielen und wie winzige Bomben auf dem schmutzig grauen Boden auseinander spritzten. Bei diesem Anblick erwachte er aus seiner Erstarrung.
»Nein!«
Es war ein Aufschrei, kein gesprochenes Wort. »Ich will es nicht! Nimm du es!«
Er streckte die Hand vor, um es Georg zurückzugeben, und eine halbe Sekunde lang glaubte er tatsächlich, dass es der Mann zurücknehmen würde, der das noch pochende Herz aus einem lebenden Menschen herausgeschnitten hatte. Als er begriff, dass er sich getäuscht hatte, war es bereits zu spät, und Georg hatte einen Schritt zurück gemacht.
Will blickte ihn vollkommen erstarrt an. In ihm war kein einziger klarer Gedanke mehr. Sein Zeitgefühl erfuhr keine Unterbrechung, aber für eine oder zwei Sekunden schien er von jeglichen Sinneseindrücken abgeschnitten zu sein. Er wartete darauf, dass das Entsetzen zuschlug. Aber es kam nicht. Er spürte … nichts.
»Wessen Herz ist das?«, fragte Reimann ganz nüchtern und so beiläufig, als stünde er in einem Anatomiesaal neben einem Gerichtsmediziner, der über die Todesursache eines Mordopfers spekulierte.
Wessen Herz …
Wills Atem setzte aus. Er hatte es die ganze Zeit geahnt, aber den Gedanken nicht ins Bewusstsein einsickern lassen. Wie groß ist ein Kinderherz? Wie groß das eines Erwachsenen?
Diese für ihn ansonsten vollkommen nebensächliche Frage begann eine plötzlich zentrale Bedeutung für ihn zu erlangen. Er wagte sie nicht weiterzudenken, nicht die Konsequenz einer wie auch immer gearteten Antwort als Spekulation zu verfolgen. Er wollte nicht, dass Georg Reimanns Frage beantwortete, er wollte nicht wissen, was es mit dem Ding auf sich haben konnte, das er da in der Hand hielt.
»Spielt das eine Rolle?« Georg – der
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