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Feuer: Roman (German Edition)

Feuer: Roman (German Edition)

Titel: Feuer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Sommerschlussverkaufs vor der geschlossenen Tür auf und ab zu gehen und darauf zu warten, dass sich die Tore zum Paradies endlich öffneten.
    Offensichtlich war er auch nicht der Einzige, dem er komisch vorkam. Die junge Verkäuferin, die schließlich mit einem gewaltigen Schlüsselbund in der Hand erschien und zuerst die beiden unteren, dann die zwei oberen Schlösser der Automatiktür entriegelte, warf ihm einen schrägen Blick zu, und auch Will selbst fühlte sich auf sonderbare Weise unbehaglich, als erster Kunde in das zwar bereits taghell erleuchtete, aber vollkommen leere und irgendwie noch verschlafen wirkende Kaufhaus zu gehen.
    Ebenso wie den Secondhand-Shop hatte er auch dieses Geschäft bisher nur von außen gesehen und sich noch nie sonderlich viele Gedanken über sein Inneres und die Ware gemacht, die dort angeboten wurde. So hatte er im ersten Moment Mühe, sich zu orientieren, und kam sich ebenso hilflos wie verloren vor. Die junge Verkäuferin, die die Tür geöffnet hatte, stand noch immer hinter ihm und blickte unverhohlen neugierig in seine Richtung, und Will überlegte eine Sekunde lang, sie um Hilfe zu bitten, entschied sich dann aber dagegen und humpelte rasch weiter und auf die Rolltreppe zu. Sie war bereits auf ihn aufmerksam geworden, und wenn er sie nun ansprach – egal, weshalb –, würde sie sich später noch genauer an ihn erinnern. Und auch wenn es im Moment vermutlich keine Rolle mehr spielte, war er doch nach dem Patzer, den er sich gestern Abend erlaubt hatte, doppelt vorsichtig.
    Wenigstens war die Rolltreppe keine Enttäuschung. Sie lief noch nicht, aber daneben befand sich eine große Tafel, auf der die einzelnen Abteilungen des Kaufhauses aufgelistet waren. Kinderkleidung wurde im zweiten Stockwerk feilgeboten. Will betrat die Rolltreppe, die sich automatisch in Bewegung setzte, als die unsichtbaren Sensoren sein Gewicht registrierten, fuhr nach oben und kam sich noch hilfloser und deplatzierter vor, als er das riesige Angebot an Kinderkleidung sah, das die Abteilung bereithielt. Diesmal beging er aber nicht den Fehler, stehen zu bleiben und sich verwirrt umzusehen, sondern steuerte zielsicher die gegenüberliegende Wand an und fand sich unversehens inmitten einer Auswahl prachtvoller Kommunionkleider und -anzüge. Was er suchte –nämlich Jeans, T-Shirts und vielleicht eine preiswerte Jacke –, war nirgends zu entdecken.
    Während er nach dem Gewünschten Ausschau hielt, sah er sich gleichzeitig unauffällig nach eventuellen Beobachtern um. Als er heraufgekommen war, war er auch hier oben praktisch allein gewesen; hinter der einzigen Kasse, die es im gesamten Stockwerk zu geben schien, kämpften zwei junge Verkäuferinnen gegen ihre Müdigkeit an und versuchten sich nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, wie hart die zurückliegende Nacht gewesen war, und irgendwo auf der anderen Seite war eine ältere Kollegin damit beschäftigt, in den Regalen die Lücken aufzufüllen, die der gestrige Tag hinterlassen hatte. Als er seine Drehung jedoch fast vollendet hatte, lud die Rolltreppe eine weitere Kundin ab. Anscheinend war er doch nicht der einzige Frühaufsteher in dieser Stadt.
    Was nichts daran änderte, dass er vermutlich schon wieder auffiel. Will stand reglos mitten im Raum und sah sich so hilflos um wie ein überzeugter Veganer, den es in einen Schlachthof verschlagen hatte, und je verzweifelter er nach dem Gesuchten Ausschau hielt, desto weniger sah er es. Verdammt, es konnte doch wohl nicht so schwer sein, ein paar ordinäre Jeans und ein T-Shirt aufzutreiben!
    »Brauchen Sie Hilfe?«
    Will fuhr erschrockener zusammen, als ihm lieb war, und drehte sich hastig herum. So winzig die Zeitspanne auch war, die er dazu brauchte, sie reichte seiner auf Hochtouren laufenden Fantasie allemal aus, ihm die allerschlimmsten Schreckgespenster vorzugaukeln. Aber hinter ihm standen weder Reimann noch der wie Phönix aus der Asche aus dem Feuer wiederauferstandene Schläger Sven und auch nicht der kleine Plagegeist, der so unversehens in sein Leben gebrochen war, sondern nur die junge Frau, die er gerade auf der Rolltreppe gesehen hatte. Aus der Nähe betrachtet, wirkte sie ausgesprochen attraktiv, zugleich aber auf eine schwer in Worte zu fassende Weise … seltsam. Sie war hübsch, hatte glattes, bis weit über die Schultern fallendes Haar, dessen Farbe weniger blond als tatsächlich schon fast golden war, und ein schmales, fein geschnittenes Gesicht, das sehr verletzlich aussah.

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