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Feuer: Roman (German Edition)

Feuer: Roman (German Edition)

Titel: Feuer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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wohin sie flüchten konnten. Sie befanden sich in der Lage zweier Männer, die eine brennende Fahnenstange hinaufkletterten – ohne einen Fallschirm im Gepäck zu haben.
    Reimann wankte erneut, und Will legte sich den linken Arm des Mannes über die Schulter und biss die Zähne zusammen, als er plötzlich dessen gesamtes Gewicht auf sich lasten spürte. Er machte einen vorsichtigen Schritt, aber statt die Treppe hinaufzugehen, wandte er sich in die entgegengesetzte Richtung, den Flur hinab und den Flammen wieder entgegen.
    Wie auf jeder Etage gab es auch hier drei Türen zu den dahinter liegenden Wohnungen. Will ignorierte die erste, steuerte die Tür der mittleren Wohnung an und atmete erleichtert auf, als er die Klinke herunterdrückte und die Tür ohne Probleme öffnete.
    Auch in der Wohnung dahinter brannte es bereits. Die Gardinen im Wohnzimmer schienen Feuer gefangen zu haben, und auch durch die Ritzen der fest geschlossenen Küchentür sah er ein unheilvolles, gelbes und rotes Licht flackern. Aber die Luft war hier nicht ganz so verqualmt – und nicht annähernd so heiß! –wie draußen im Hausflur, so dass sie wenigstens wieder atmen konnten.
    Will bugsierte Reimann ächzend in die Wohnung, stieß die Tür hinter sich zu und stolperte weiter. Nach den ersten zwei, drei Atemzügen vermeintlich kühlerer Luft spürte er, wie heiß es auch hier drinnen war. Schwarz-grauer Qualm bildete eine wogende Wolkendecke dicht über ihren Köpfen, aus der sich tastende graue Tentakel nach unten reckten, wie die Fangarme eines Monsters aus einer Lovecraft-Story, die nach Beute suchten. Irgendwie hatte das Feuer, das sich draußen noch im Erdgeschoss austobte, hier drinnen schon seinen Weg nach oben gefunden. Sie waren keineswegs in Sicherheit, sondern hatten nur ein paar Minuten gewonnen; bestenfalls.
    Er unterdrückte den Impuls, tief einzuatmen und sich für einen Moment gegen die Wand sinken zu lassen, um neue Kraft zu schöpfen, und taumelte mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Reimann schien sein Gewicht mit jedem Schritt zu verdoppeln, zu dem er seine protestierenden Muskeln zwang, aber irgendwie schaffte Will es, die Schlafzimmertür zu erreichen und aufzustoßen.
    Der Raum dahinter brannte. Das Bett – ein wahres Monstrum aus geschnitztem Holz und langsam verkohlenden Klöppeldeckchen – schwelte an einem Dutzend Stellen, und auch hier standen die Gardinen bereits lichterloh in Flammen. Selbst ein Teil der Tapeten hatte schon Feuer gefangen, und der Boden schien zu glühen.
    Aber das war nicht alles. Es war nicht einmal das Schlimmste.
    Viel intensiver noch als die äußere Gefahr spürte Will den Zorn des Ungeheuers, das tief unter ihnen endgültig seine Ketten gesprengt hatte und in seinem Wüten kein Maß oder Ziel fand. Es war nicht nur Feuer, geschmolzenes Gestein und Hitze, sondern eine Schöpfungsgewalt, die keine Grenzen und weder Freund noch Feind kannte, sondern nur das, was ihre Natur war: Vernichtung.
    Vielleicht im letzten Moment begriff Will, dass es mit einem Mal seine eigenen Gedanken waren, die sich als sein größter Feind entpuppten. Ihnen blieben bestenfalls Minuten, um aus dieser Hölle zu entkommen, und jeder Atemzug, den er mit dieser hirnrissigen Metaphorik verschwendete, war unwiederbringlich verloren. Er stieß die Schlafzimmertür hinter sich zu, quälte sich weiter und riss mit der freien Hand die schwelende Spitzendecke vom Bett. Er seufzte erleichtert, als er Reimann auf der Bettkante ablud und weiter zum Fenster wankte.
    Worauf er gehofft hatte, stellte sich als Tatsache heraus. Seit er seine Wohnung bezogen hatte – vor weniger als zwei Monaten, auch wenn ihm diese Zeit in diesem Drecksloch zehn Mal so lange vorgekommen war –, hatte er vielleicht ein Dutzend Mal aus dem Schlafzimmerfenster hinunter in den schmuddeligen Innenhof geblickt, den sich das fünfzig Jahre alte Gebäude mit einem halben Dutzend Nachbarn teilte. Aber seine verzweifelte Hoffnung bewahrheitete sich: Nicht einmal einen Meter unter dem Schlafzimmerfenster erstreckte sich das mit Teerpappe gedeckte Dach einer Garagenreihe, die sich wie eine gemauerte Zunge in den Hinterhof schob und ihn asymmetrisch teilte. Auch der Hinterhof war nicht unbeschadet davongekommen: Hier und da loderten kleine Flammennester, und die Teerpappe auf den Garagendächern hatte an einigen Stellen Blasen geschlagen. Die Luft über dem Hof flimmerte vor Hitze. Dort hinauszugehen musste einem Spießrutenlauf durch die Hölle

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