Feuer um Mitternacht
Dach zu ersteigen, war mir rechtzeitig eine brauchbare Idee eingefallen: Ich erinnerte mich, daß auf unserem Dachboden, in einer Kiste, noch ein Paar Sportschuhe meines Vaters aufbewahrt wurden. Spikes mit drei kräftigen, spitzen Eisendornen in der Sohle; die konnte ich als Steigeisen benutzen. Vater war ein guter Sportler gewesen. Das hatten mir andere Leute erzählt. Zwar waren diese Schuhe mir etwas zu groß, doch bei den Diensten, die sie mir leisten sollten, kam es nicht auf den guten Sitz an. Endlich war es soweit. Ich drückte mich vorsichtig um die Wallecken. Lange Umwege machte ich in dieser Nacht nicht. Die Straßen waren still und glatt wie kleine, stromlose Wasserläufe. In der
Allee verschränkten die Bäume ihre Äste zu einem hohen Gewölbe. Kein Fenster zeigte noch Licht. Für Menschen und Hunde war es nicht die richtige Zeit. Für mich und die Katzen war die Stunde passend. Ob andere wohl zusammenzuckten und schauderten, als sei ihnen ein kalter Lappen über den Nacken gefahren, wenn gelbglühende Augen zwischen den Heckenrosen auftauchten und schnelle Schatten an ihren Füßen vorbei wischten? Für andere mochten das unliebsame Begegnungen sein. Für mich waren die Katzen gute alte Bekannte. Große Schwierigkeiten ergaben sich bei meinem Vorhaben nicht; alles wickelte sich viel glatter ab, als ich es mir ausgemalt hatte. Nicht einmal eine Leiter benötigte ich. Über einen Ast des Birnbaums im Hintergarten kletterte ich auf die Dachschräge, preßte die ganze Länge meines Körpers an das Reet, zögerte einen Moment und stemmte mich dann mit meinen provisorischen Steigeisen langsam und vorsichtig an den Dachfirst heran. Die eisernen Dornen drangen mühelos in das festgelagerte Reet ein und gaben mir sicheren Halt. Auf dieser Seite, der Ostseite des Daches, wuchs kein Moos. So konnte ich nicht ausrutschen und keine Moosfladen abreißen, die bei Tageslicht meinen Kletterweg verraten hätten. Es sollte ein Rätsel bleiben, auf welche geheimnisvolle Weise der Goldhahn von Sönderups Dach verschwand. Oben angekommen, streckte ich zuerst den Kopf bis zur Augenhöhe über den First: kein Mensch, kein Hund, kein Auto zu sehen! Ich schob ein Bein auf die andere Dachseite und suchte mir einen Platz im Reitsitz zwischen den Holzpflöcken, die die Firstsoden hielten. Die Konstruktion des Wetterhahns war einfach. Ich hätte mir das Werkzeug sparen können ,; aber das konnte ich nicht voraussehen. Nicht mal eingerostete Bolzen brauchte ich zu lösen. Eine T-förmige Eisenkonstruktion aus dünnem Rohr trug auf einer Seite einen Richtungspfeil, auf der anderen den Hahn. Das T-Rohr drehte sich auf einem zweiten Rohr von etwas geringerem Durchmesser, vermutlich auf zwei Stahlkugeln. Wie das untere Rohr im Dach verankert war, konnte ich nicht feststellen; es war auch nicht wichtig. Von ihm spreizten sich die vier Himmelsrichtungen ab, wie Speichen von einer Radnabe mit dem Unterschied, daß sie kein Rad, sondern vergoldete Metallbuchstaben an ihren Enden trugen. Ein prächtiges Ding, wirklich! Ich brauchte nur Hahn und Pfeil mitsamt dem T vom unteren Rohr abzuziehen. Schon streckte ich meine Hände aus — verdammt! Gegenüber, fast zum Greifen nahe, wurden in Hageldorns Hausgiebel zwei Fenster hell. Der Schreck kam so unerwartet, daß ich mich mit beiden Händen am Wetterhahnschaft festklammerte. Drüben bewegte sich ein Schatten hinter der Gardine, kam näher, nein — blieb stehen... Wollte der alte Knabe etwa noch um diese Nachtzeit die Nase aus dem Fenster stecken? Das fehlte noch! Was nun.. ? Er bückte sich, richtete sich wieder auf, blieb auf der Stelle stehen, schaukelte etwas hin und her... Und dann lachte ich los! Ich erriet, was Niklas Hageldorn dort drüben tat: Er pinkelte! Pinkelte in einen Nachttopf. Leute wie Hageldorn leben immer noch mit einem Nachttopf unter dem Bett. Er hätte sein Geschäft gern eine halbe Stunde verschieben dürfen. Dann hätte er mir einen Schreck und ein paar ungewisse Minuten erspart. Die Fenster wurden wieder dunkel. Ich zog den Hahn aus seiner Halterung heraus und drückte ihn mit der Pfeilspitze ins Dach, um mich mit dem Kranz der Himmelsrichtungen zu beschäftigen. Mit der Eisensäge abschneiden? Nein, das nahm zuviel Zeit in Anspruch, und mit der Zeit mußte ich sparsam umgehen, denn ich hatte noch mehr zu erledigen. Ich fand heraus, daß sich das Gerüst der Himmelsrichtungen mit einiger Anstrengung drehen ließ. Als ich den letzten Handgriff getan hatte, war Norden
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