Feuer um Mitternacht
— Süden, Osten — Westen, Westen — Osten und Süden — Norden. Ich glitt mit meiner Beute schnell die Dachschräge hinunter. Die gut erledigte Aufgabe verlieh mir den nötigen Schwung. Wohin jetzt mit dem Hahn? Wegwerfen? Eingraben? Ins Wasser versenken? Sonstwo verstecken? Die richtige Idee fiel mir auf dem Nachhauseweg ein: auf ein anderes Hausdach setzen! Und Hannah Postels Dach war der richtige Platz für Sönderups Wetterhahn. Die beiden waren sich spinnefeind, und Hannah Postel war die geschwätzigste alte Elster in Tarrafal. Die Überraschung, die ich ihr bereiten wollte, würde ihre Schwatzmühle lange Zeit in Bewegung halten. Hannahs Haus lag nur wenig abseits von meinem Heimweg. Das Dach war besonders tief herabgezogen und leicht über eine Regentonne zu erreichen. Vielleicht bewahrten die hohen Ulmen, die das Haus wie eine Schildwache umstanden, den Hahn ein paar Tage vor der Entdeckung. Das erhöhte die Spannung. Diesen letzten Teil meiner Aufgabe schaffte ich gerade noch rechtzeitig; denn als ich über unseren Wall kletterte, kroch im Osten schon der erste rosa Schimmer über den Eisenbahndamm. Vier volle Tage dauerte es, bis man Sönderups Wetterhahn auf seinem neuen Hochsitz entdeckte. Nicht Jumbo Tackert, den Sönderup auf die Fährte gesetzt hatte, und der mit einem unglücklichen Gesicht durchs Dorf stapfte, entdeckte den Hahn zuerst. Nicht Sönderup, nicht Hannah Postel: Der Briefträger sah ihn, als er sich über die nachtschwarze Qualmwolke wunderte, die aus Hannahs einzigem Schornstein quoll. Dabei hatte der Wetterhahn die ganze Zeit über offen vor aller Augen auf einem fremden Hausdach gehockt — nur schaute niemand hinauf! Ich hatte erreicht, was ich wollte: Peter Sönderup schäumte vor Wut, und Tarrafal brodelte wie ein Kessel mit kochendem Wasser. Fast zehn Tage lang sah mich Hageldorns Kastanie nicht in ihrem Geäst, so zufrieden war ich mit mir. Hannah Postel schwadroniert noch bis heute von dem „Wunder auf ihrem Hausdach“. — Natürlich hatte ich die Spikes erst kurz vor der Dachkletterei übergestreift und sofort danach am Fuß des Birnbaums wieder ausgezogen. Ich hatte nicht die Absicht gehabt, eine deutliche Drei-Loch-Spur von unserem Haus zu Sönderup und wie eine Fährte im Schnee, zurück zum Täter zu hinterlassen.
Irgend jemand hetzte Jumbo auf mich los. Er paßte mich drei Tage später auf dem Heimweg von der Schule ab und fragte, ob ich etwas mit dem Streich zu tun hätte. „Nein!“ war meine Antwort. „Gut“, sagte er nur, nickte ein paarmal mit dem Kopf und ließ mich laufen.
Na, endlich!
Jumbo setzte sich wieder in Marsch. So bedächtig, wie er gekommen war, schaukelte er um Sönderups südliche Wallecke herum.
Den war ich los!
Eine Minute später schwang ich mich in Hageldorns Kastanie, kletterte hoch ins Geäst, setzte mich auf den waage rechten Ast, den ich mir ausgesucht hatte, damit ich mir bei den langen Sitzungen nicht den Hintern einklemmte. Dann drückte ich mich eng an den Stamm heran. Falls jemand sich unter die Kastanie verirren sollte — zu entdecken war ich kaum. Für den würde ich nur eine Verdickung, ein Auswuchs am Baum sein. Auch von der Straße her befürchtete ich keine Entdeckung. Die Nacht war finster genug, um einen Schatten in einer Astgabel zu verwischen. Die meisten Leute drückten sich ohnehin scheu an dem Unglücksbaum vorbei und gönnten ihm kaum einen hastigen Blick.
Ich fürchtete mich nicht:
Ich sah Vater nur so, wie er war, als er noch lebte...
Die Lücke im Geäst verschaffte mir eine gute Aussicht auf Sönderups Wohnzimmerfenster. Ich knöpfte die beiden oberen Knöpfe an meinem Anorak auf und zog mein wichtigstes Gerät hervor: das Fernglas! Vater hatte es mir zu meinem zwölften Geburtstag geschenkt. Das Geld dazu verschaffte er sich von Tante Lene. Mutter mußte ihm das Geständnis am Abend zwischen den Zähnen hervorgezerrt haben. Und sie schaffte es wieder mal: Vater wurde wild und rannte an meinem Geburtstag spät abends aus dem Haus. Ich ging ins Wohnzimmer. Mutter weinte und starrte erschöpft vor sich hin. Am nächsten Morgen, am Frühstückstisch, redete Vater kein Wort. Mittags lachte er wieder. Rechts, schräg unter mir, öffnete sich die Haustür. Niklas Hageldorn stürzte in Hemdsärmeln heraus, rannte um die Ladenecke. In Hemdsärmeln! Bei dem Wind! Gut eine Minute später kam er schon zurück und zog die Tür mit einem Knall hinter sich zu.
Ich drehte mit spitzen Fingern an dem Stellrad, bis ich
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