Feuer um Mitternacht
bloß nicht um mich kümmern wollten! Ich kam allein zurecht. Und ich hatte ja noch Sylvie und Tante Lene...
Ich hatte mir etwas vorgenommen: Ich wollte Peter Sön-derup quälen! Er sollte Angst bekommen und unruhige Nächte! Er war schuld am Tode meines Vaters. Ich haßte ihn.
Fast alles stimmte, was die Leute mir zutrauten. Ich redete nicht mit ihnen, tat viel, um mich bei ihnen unbeliebt zu machen. Es gab nur ein paar Ausnahmen.
Ich ließ mich nicht fangen. Niemand sah mich, wenn ich nachts unterwegs war. Und wer nichts gesehen hat, kann nichts beweisen.
Ich drückte mich eng an die Hauswand und horchte auf die Geräusche, die durch die Nacht schwebten. Ich spähte zu Tante Lene hinüber. Ihre Kate zeigte nirgends einen Lichtschimmer. Merkwürdig oft in letzter Zeit, schien mir. Tante Lene war sonst eine Nachteule. Vielleicht saß sie in der dunklen Wohnstube und redete mit Jeremias, ihrem Papagei. Niemand konnte sagen, wie alt Jeremias war. Er sei schon uralt gewesen, als sie ihn vor zwölf Jahren von den Erben eines Fährkapitäns kaufte, behauptete Tante Lene. Aus der Kapitänszeit stammten wohl auch die Flüche, die Jeremias krächzen konnte, wenn ihm danach war. Stand Tante Lene am Fenster und beobachtete mich? Zuzutrauen war es ihr. Wußte sie, daß ich nachts aus dem Fenster kletterte? Sie hatte noch nie ein Wort darüber gesagt... Bewegte sich drüben die Gardine? Einbildung! Bei Nacht mußte man sich zusammennehmen, daß man nicht grundlos zu spinnen anfing.
Gestern abend stand ich in Tante Lenes Hausflur und hörte durch die spaltbreit geöffnete Wohnzimmertür, wie sie mit Jeremias über mich redete. „Der Junge gefällt mir nicht, Jeremias. Wir müssen ihm helfen. Aber wie? Markus verrennt sich in eine Sache, die ihm über den Kopf wachsen kann...“ Tante Lene konnte mir nicht helfen. Ich brauchte keine Hilfe. Meinen Vater konnte doch keiner wieder lebendig machen. Und mit Peter Sönderup würde ich allein fertig! Ich klopfte dann doch an ihre Stubentür, um mir ein Brot mit ihrem berühmt guten Backkäse zu schnorren. Ich bekam, was ich wünschte. Tante Lene war mit den Gedanken weit weg. Sie schaute mich nachdenklich und sorgenvoll an, so als wüßte sie immer noch nicht genau, um was sie sich Sorgen machen müßte. Aber sie stellte keine Fragen. Ich hätte wohl auch keine beantwortet. Das Besondere an Tante Lene Steenkamp war, daß sie mich nie bedrängte, wenn ich nicht antworten wollte. Deshalb brauchte ich bei ihr auch nicht mehr zu lügen, als unbedingt notwendig war. Lene Steenkamp belog ich nur, wenn es gar nicht anders ging. Trotzdem konnte ich immer bei ihr anklopfen. Bei Tag und bei Nacht.
Tante Lene war eine von den Ausnahmen.
Wann das war, erinnere ich mich nicht mehr. Es verwirrte mich, und ich weiß die seltsamen Worte noch genau, die mein Vater sprach. Er saß dabei auf meinem Bett, preßte die Hand auf eine bestimmte Stelle des Kopfes, als ob er dort Schmerzen verspürte, und sagte stockend: „Du — Markus, wenn — wenn du mich mal nicht mehr hast…“ Und dann sprach er nicht weiter, verließ mein Zimmer wie einer auf der Flucht. Ich verstand nicht, was Vater mir sagen wollte. Er war in den Monaten davor so anders gewesen, hatte nicht mehr so laut gelacht, war nicht mehr so oft mit mir unterwegs... Geldsorgen! hatte ich gedacht. Und ich glaube immer noch fest, daß das die richtige Erklärung war.
Vater nannte sie auch Tante Lene, er hatte sie ebenso gern gemocht wie ich. Dabei ist Lene Steenkamp nicht mit uns verwandt.
Zwei Minuten nach zehn! Es wurde Zeit!
Ich klemmte mich an unserer südwestlichen Wallecke durch die Fliederbüsche. Dreißig Meter links von mir ließ der Wind die Blätter um die Straßenlaterne tanzen, bevor er sie in die Finsternis scheuchte.
Zuerst überzeugte ich mich, ob die Straße menschenleer war. Dann sprang ich vom Wall herunter.
Ich wählte den etwas längeren Weg an den Bahngleisen entlang um den Südzipfel des Dorfes herum.
Als ich mich durch Sprekkelsens Stacheldrahtzaun zwängte, rauschte gerade der Spätzug zum Festland mit flackernden Lichtern an mir vorüber. Gleich darauf kreischten seine Bremsen. Er wollte wohl noch Reisende aufsammeln, aber es warteten keine auf dem einzigen Bahnsteig. Nur Lukas Prott stand da, hielt mit der einen Hand die rote Mütze fest und gab mit der anderen Grün für die Weiterfahrt. Ich überquerte die Schienen mit ein paar langen Sprüngen, hetzte weiter durch den ausgetrockneten Abzugsgraben und
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