Feuer um Mitternacht
über das Holzgatter in die Pastorenwiese. Auf diesem ewig langen Handtuch rannte ich, von den Weißdornbüschen gedeckt, bis an das Pastorat, schlich hinter den Bienenstöcken entlang, setzte beim Walnußbaum über Pastors Ostwall, und gleich weiter über die Straße, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß sie nach beiden Seiten hin menschenleer war. Dann ging es weiter, quer durch vier zusammengewachsene Gärten, über den Hohlweg der Liebesallee hinweg auf den Museumswall, und dahinter duckte ich mich. Hier konnte ich eine Pause einlegen; ich war nahe an meinem Ziel.
Die Liebesallee hatte ich unbesorgt queren können. Dort zeigte sich niemand um diese Jahreszeit, das wußte ich. Die Badegäste waren ausgeflogen; den Einheimischen standen dort zu viele Pfützen, und den Liebespaaren, die noch im Vormonat in den Büschen nisteten, war es inzwischen zu kalt geworden.
Das alte Museum und Niklas Hageldorns Haus lagen eng aneinander, wie eine doppelte Brotschnitte. Ein schmaler, gepflasterter Hof führte zu ihrer gemeinsamen Südpforte. Nach allen vier Himmelsrichtungen gab es je einen Ein- und Ausgang. Die Nordpforte in der Nähe der Kastanie benutzte ich ab und zu. Die Südpforte war gewöhnlich unpassierbar. Hier stapelte Niklas Hageldorn seine leeren Kartons und Bierkisten.
Ich brachte das letzte Stückchen Weg hinter mich, am Nordwall entlang, dort wo die Brombeeren ihr stacheliges Drahtverhau flochten. Bei Hageldorns Kastanie angekommen, mußte ich zuerst einen heimlichen Rundblick nehmen, um zu sehen, ob die Luft rein war. Ich schob mich, wie immer, auf die Wallkrone hinauf und behutsam zwischen die Heckenrosen. Die Straße durfte kein Leben zeigen; dann erst konnte ich im Geäst von Hageldorns Kastanie verschwinden.
Niemand ließ sich blicken. Autogeräusche waren auch nicht zu vernehmen. Schon wollte ich mich an den untersten Ast klammern und mit Schwung in der Krone untertauchen, da---Schritte!
Schritte auf der Straße links hinter meinem Rücken! Ich machte mich flach, kniff die Augen zusammen, ließ die Atemluft langsam und leise zwischen den Lippen hervorstreichen...
Schwere, bedächtige Schritte. Schritte, die weder schneller noch langsamer wurden, die stur das Tempo beibehielten, wuchtige Schritte. Schritte, die ich kannte, die ich öfter bei Nacht hörte. Ich hatte mir Tempo und Klang eingeprägt.
Ich kannte die Gestalt, das Gesicht zu den Schritten und den Namen auch. Ich wußte, daß ein Riese kam. Aber er bedeutete keine Gefahr für mich. Ich bemerkte ihn immer rechtzeitig — er mich nie. Er konnte keinen schlauen Kater fangen.
Polizist Tackert bog um die Ecke!
Er hielt sich so genau in der Straßenmitte, als hätte er sie vorher mit dem Zollstock ausgemessen und außerdem noch mit einer weißen Linie markiert.
Polizist Tackert streifte das Heckenrosendickicht, das mich verbarg, und auch Hageldorns Kastanie nur mit einem flüchtigen Blick. Er schaute zu Sönderups Haus hinüber und blieb in Höhe der Wohnzimmerfenster stehen. Sah, was ich auch sah: In Peter Sönderups Wohnzimmer geisterte der fahlblaue Schein des Fernsehschirms umher — wie fast an jedem Abend.
Tackert stand da, breitbeinig, den Rücken gegen den Wind gelehnt, die Daumen in seine Seitentaschen gehakt. Der Wind wirbelte die Kastanienblätter über die Straße, und im Licht der Laterne umflatterten sie seine Beine wie riesengroße, braune Motten.
Woran dachte er jetzt gerade? Wollte er kontrollieren, ob wieder ein roter Hahn in Sönderups Hausdach steckte? Der dritte und letzte rote Hahn setzte sich vor drei Nächten auf das Dach dort drüben, und nun war Schluß damit. Die erste Karte mit einem feuerroten Hahn hatte Peter Sönderup in seinem Ärger vernichtet. Die anderen beiden verwahrte Polizist Tackert in seiner Amtsstube: zwei Pfeile aus trockenem Schilfrohr und zwei Karten mit feuerroten Hähnen bedruckt. Und ich wußte sogar, wo er diese wichtigen Funde barg: In einer langen Pappröhre, und die Pappröhre stand in einem Schrank, in dem auch sein Schlechtwetterumhang hing. Jeden Abend verschloß er den Schrank, zog den Schlüssel ab, verschloß das Amtszimmer, zog auch hier den Schlüssel ab und rüttelte sicherheitshalber noch einmal an der Türklinke. Dann ging er über den Flur in seine Privatwohnung, hängte alle Schlüssel an das Schlüsselbrett neben der Eingangstür.
Er würde staunen, wenn er wüßte, was ich alles wußte! Und noch mehr staunen würde er, wenn er erfuhr, wer mich mit diesen geheimen
Weitere Kostenlose Bücher