Feuer und Glas - Der Pakt
allein nachts unterwegs war, blieben ihr nur die Zweifel und Ängste, die wie ein Bleilot auf ihr lagen. Inzwischen hatten Ysa und Savinia ihre Flucht sicherlich bemerkt. Oder hatte die Tante wieder einmal alles für sich behalten? Aber wie sollte sie ihrer Schwägerin dann Millas Fernbleiben vom ippocampo erklären, wo abends doch jede Hand gebraucht wurde?
Während Milla zur Mondsichel emporstarrte, wurde die Sehnsucht nach dem verschwundenen Vater schier unerträglich.
Hilf mir!, dachte sie. Lass mich nur ein einziges Mal so klug und mutig sein wie du. Du glaubst an mich. Sonst hättest du niemals jenen Brief geschrieben. Aber kann ich deinem Vertrauen auch wirklich gerecht werden?
Rudergeräusche rissen sie aus ihren Grübeleien.
Es war der gleiche Fährmann wie vorher, der sie mit unverhohlener Neugier beäugte, kaum war sie eingestiegen.
»Immer noch unterwegs?«, fragte er missbilligend. »Mädchen wie du sollten um diese Zeit längst im Bett liegen. Oder willst du auch zur großen Prozession?«
Milla schüttelte den Kopf.
»Inzwischen müssen es Hunderte sein«, fuhr er fort. »Aus allen Stadtvierteln strömen sie zusammen. Heute gibt es keine Einwohner von San Polo, Canareggio, Castello oder San Marco. Heute Nacht sind wir alle nur noch Venezianer.«
Was meinte er damit?
Gesänge drangen durch die Nacht und schwollen an, als sie das andere Ufer erreicht hatten. Plötzlich war es nicht mehr dunkel wie noch gerade eben. Da vorn leuchtete doch etwas …
Feuer?
Nicht schon wieder Feuer!
Milla rannte los, doch sie kam nicht weit. Die Gasse vor ihr war voller Menschen, die dicht an dicht voranschritten, in den Händen brennende Kerzen. Viele der Frauen hatten ihre Häupter verhüllt wie beim Kirchgang.
Manche weinten.
Es ging bei Weitem nicht so feierlich und gesittet zu wie während eines Gottesdiensts, obwohl die Menge die Jungfrau Maria anrief, San Marco und all die anderen Heiligen dazu. Was aus ihren Kehlen stieg, klang wild und rau, durchtränkt von Verzweiflung und Angst.
»Schütze unsere Stadt!«, riefen sie. »Santa Madonna, nimm dich unser an. Lass nicht zu, San Marco, dass die Serenissima untergeht. Verschone unsere Söhne. Halte die Feinde auf alle Zeit von Venedig fern …«
An ein Durchkommen war nicht zu denken.
Milla blieb nichts anderes übrig, als sich in diesen Strom einzugliedern, der immer weiter anschwoll. Mitgezogen wurde sie, und bald fiel auch sie mit ein in die Wehklagen, Anrufungen und Bitten, bis schließlich das Ave Maria angestimmt wurde, wieder und immer wieder.
Mittlerweile dröhnten ihre Ohren, weil nun auch noch Kirchenglocken zu läuten begonnen hatten und die Gesänge übertönten. Es war, als hätten sich alle Glöckner Venedigs zu dieser nächtlichen Stunde verabredet, um die Stadt in einen vielstimmigen Klangteppich zu hüllen.
Milla reckte den Hals, noch immer auf der Suche nach einem Fluchtweg. Dann schaute sie sich um.
Gehörte der rötliche Schopf schräg hinter ihr nicht Marco?
Er war ihr auf den Fersen! Hatte er sie womöglich bis zur Werft verfolgt? Diese Vorstellung setzte in Milla ungeahnte Kräfte frei. Wenn es so war, sollte er beizeiten eine Ahnung davon bekommen, wie anstrengend es sein würde, ihr Schatten zu sein!
»Wohin gehen wir?«, fragte sie die ältere Frau neben sich, die ihren Rosenkranz umklammert hielt und wie entrückt Strophe um Strophe murmelte.
»Nach San Marco natürlich«, gab diese kopfschüttelnd zurück. »Weißt du das denn nicht, Mädchen?«
Die Prozession hatte inzwischen Campo San Polo erreicht, für Milla endlich vertrauteres Terrain. Mit ein paar raffinierten Abkürzungen war es von hier aus nicht mehr weit bis nach Hause – und genau dorthin wollte sie so schnell wie möglich. Sie kniff die Augen zusammen, um im wogenden Auf und Ab aus Kerzen und Leibern den richtigen Moment nicht zu verpassen.
Jetzt!
Milla drehte sich nach rechts und setzte ungeniert ihre Ellbogen ein, um sich durchzuzwängen. Lautes Schimpfen und vereinzelte Flüche folgten ihr, doch schließlich hatte sie es geschafft.
Folgte ihr jemand?
Offenbar war es ihr gelungen, Marco abzuschütteln. Aufatmend lief sie über die kleine Brücke, die zum Campo dei Frari führte. Von hier aus waren es nur noch ein paar Gassen, bis Milla endlich vor dem schmalen Wohnhaus stand, in dem Ysas Wohnung lag.
Oben schien alles dunkel.
Sie würden doch nicht schon schlafen?
Sie legte die Hand auf die Brust und spürte ihr rasendes Herz, auf dem das
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