Feuereifer
Namen.« Im Zwiegespräch war Andres' Stimme leise und sein Akzent kaum hörbar. »V. I. Warshawski. Machen Sie Seelsorge auf Baustellen in der Gegend hier, Pastor Andres?«
Er zuckte die Achseln. »Eine kleine Kirche wie meine kann meinen Lebensunterhalt nicht bezahlen, deshalb arbeite ich nebenbei als Elektriker. Jesus war Zimmermann; ich trete gerne in seine Fußstapfen.«
»Ich war gestern früh in der Gebetsstunde von By-Smart. Diese Gemeinde haben Sie auf jeden Fall elektrifiziert mit Ihrer Predigt. Wollten Sie Billys Großvater im Umgang mit Gewerkschaften unterweisen?«
Andres lächelte. »Wenn ich über Gewerkschaften predigen würde, hätte ich als Nächstes mit Streikposten an Baustellen wie dieser hier zu rechnen. Aber ich weiß, dass der Alte das glaubt und dass der arme Billy, der nur Gutes tun will, wegen meiner Predigt einen Streit mit seiner Familie hatte. Ich habe versucht, den Großvater anzurufen, aber er wollte nicht mit mir sprechen.« »Wovon handelte Ihre Predigt denn dann?«, fragte ich.
Er spreizte die Hände. »Nur von dem, was ich gesagt habe -dass man alle Menschen mit Achtung behandeln soll. Ich dachte mir, das sei eine einfache und gute Botschaft für solche Leute, doch ich habe mich offenbar geirrt. Dieses Viertel hier leidet, Schwester Warshawski; es ist wie das Totenfeld. Der Heilige Geist muss uns benetzen und unsere Knochen mit Fleisch versehen und beseelen, aber die Menschensöhne müssen ihren Teil dafür tun.« Sein Tonfall war beiläufig; er predigte nicht und zog auch keine Show ab, sondern sah die Dinge tatsächlich so.
»Ganz meine Meinung. Und was sollen denn die Menschensöhne und Menschentöchter konkret tun?«
Er schürzte nachdenklich die Lippen. »Arbeitsplätze schaffen für jene, die sie brauchen. Arbeiter mit Respekt behandeln. Ihnen einen angemessenen Lohn bezahlen, von dem sie leben können. Das ist eigentlich ganz einfach. Sind Sie deshalb zu mir rausgefahren? Weil Billys Vater und Großvater versuchen, meine Predigt zu deuten? Ich bin nicht gebildet genug, um in Rätseln oder Sinnbildern zu sprechen.«
»Billy war gestern Morgen sehr empört darüber, wie sein Vater und sein Großvater mit Ihnen umsprangen. Er ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Sein Vater möchte nun wissen, ob Billy bei Ihnen ist.« »Sie arbeiten also jetzt für die Bysens?«
Automatisch wollte ich das verneinen, bis mir bewusst wurde, dass ich in der Tat für die Bysens arbeitete. Wieso sollte ich mich dessen schämen? Wenn es so weiterging, würde binnen zehn Jahren das ganze Land für By-Smart arbeiten. »Ich habe Billys Vater gesagt, dass ich hier im Viertel nach seinem Sohn Ausschau halten würde, ja.«
Andres schüttelte den Kopf. »Ich denke, wenn Billy jetzt nicht mit seinem Vater sprechen möchte, hat er ein Recht darauf. Er will erwachsen werden, sich selbst als Mann betrachten können, nicht mehr als Junge. Seine Eltern werden keinen Schaden nehmen, wenn er ein paar Nächte nicht nach Hause kommt.« »Ist er bei Ihnen?«, fragte ich unumwunden.
Als Andres sich abwandte, als wolle er in das Haus zurückgehen, fügte ich rasch hinzu: »Ich werde es der Familie nicht sagen, wenn Billy das wirklich nicht möchte, aber das würde ich gern von ihm selbst hören. Der andere Punkt ist: Die Eltern glauben, dass er bei Ihnen ist. Ob ich ihnen nun sage, dass ich ihn nicht gefunden habe oder dass er in Sicherheit ist, aber in Ruhe gelassen werden möchte - die verfügen jedenfalls über die Möglichkeiten, Ihnen das Leben schwer zu machen.« Er drehte sich halb um. »Jesus hat sich nicht von Schwierigkeiten beirren lassen auf seinem Weg zum Kreuz, und ich habe vor langer Zeit gelobt, es ihm gleichzutun.«
»Das ist löblich, aber wenn die Bysens Ihnen die Polizei oder das FBI oder einen privaten Sicherheitsdienst auf den Hals hetzen und man Ihnen die Tür aufbricht - wird das dann gut sein für Billy oder Ihre Kirchengemeinde, die Menschen, die auf Sie zählen?«
Er wandte sich ganz um, den Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht. »Schwester Warshawski, Sie sind scharfsinnig und können gut debattieren. Vielleicht weiß ich, wo Billy ist, vielleicht aber auch nicht. Falls ich es wissen sollte, kann ich das nicht jemandem mitteilen, der für seinen Vater arbeitet, da ich mich Billy verpflichtet fühle. Aber - wenn Polizisten um fünf Uhr meine Tür aufbrechen, werden sie nur meinen Kater Lazarus vorfinden.«
»Ich habe bis fünf reichlich zu tun und werde bestimmt keine
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