Feuerkind
Polen lag hinter dem Eisernen Vorhang, und wenn die CIA wollte, konnte sie etwas in Gang setzen, das diesen Verwandten, die er nie gesehen hatte, das Leben sehr, sehr schwermachen würde. Juden waren hinter dem Eisernen Vorhang nicht sehr beliebt.
Tarkington schwieg. Er steckte seine Akte wieder ein, ließ die Tasche zuschnappen, stellte sie zwischen seine Füße zurück und sah die beiden so strahlend an wie ein Student, der eben einen gelungenen Vortrag gehalten hat.
Irv lehnte sich gegen sein Kissen und fühlte sich sehr müde. Tarkington hielt immer noch die Augen auf ihn gerichtet, doch das machte ihm nicht viel aus, aber auch Normas Augen sahen ihn an, ängstlich und fragend.
Sie haben doch Verwandte in der alten Heimat, nicht wahr? dachte Irv. Das war ein solches Klischee, daß es komisch war, aber irgendwie war ihm überhaupt nicht zum Lachen zumute. Wann ist man mit den Leuten nicht mehr verwandt? Wenn es Vettern vierten Grades sind? Sechsten? Achten? Mein Gott. Und wenn wir uns von diesem scheinheiligen Kerl nicht einwickeln lassen und sie die Leute nach Sibirien verfrachten, was soll ich dann tun? Soll ich auf einer Postkarte scheiben, daß sie nur deshalb im Salzbergwerk arbeiten, weil ich in Hastings Glen eine kleine Göre und ihren Daddy in meinem Wagen mitgenommen habe? Mein Gott!
Dr. Hofferitz, der fast achtzig war, kam langsam aus dem hinteren Schlafzimmer und strich sich mit der knotigen Hand über das Haar. Irv und Norma sahen ihn an. Sie waren beide froh, aus ihren unangenehmen Erinnerungen gerissen zu werden.
»Sie ist wach«, sagte Dr. Hofferitz und zuckte die Achseln. »Sie ist in keiner guten Verfassung, Ihr kleiner Strolch, aber es besteht auch keine Gefahr. Sie hat einen entzündeten Riß am Arm und einen auf dem Rücken. Sie sagt, den habe sie sich geholt, als sie unter einem Stacheldraht hindurchkriechen mußte, um ›vor einem wütenden Schwein zu flüchten‹.«
Hofferitz setzte sich an den Küchentisch, holte seine Schachtel Camel heraus und zündete eine an. Er hatte sein ganzes Leben lang geraucht und gelegentlich Kollegen zu verstehen gegeben, soweit es ihn beträfe, könne der Inspekteur des Sanitätswesens ihn am Arsch lecken.
»Wollen Sie etwas essen, Karl?« fragte Norma.
Hofferitz sah auf ihre Teller. »Nein – aber wenn ich wollte, hätten Sie wohl nichts Neues aufzutragen brauchen«, sagte er trocken.
»Wird sie lange im Bett bleiben müssen?« fragte Irv.
»Man sollte sie nach Albany schaffen«, sagte Hofferitz. Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit Oliven, und er nahm sich, eine Handvoll. »Hauptsächlich muß sie essen, trinken und sich ausruhen. Unterernährung. Zu wenig Flüssigkeit.« Er schob sich eine Olive in den Mund. »Es war richtig, daß Sie ihr Hühnerbrühe gegeben haben, Norma. Etwas anderes wäre ihr bestimmt nicht bekommen. Morgen nur klare Flüssigkeiten. Rinderbrühe, Hühnerbrühe, viel Wasser. Und natürlich viel Gin; das ist die beste aller klaren Flüssigkeiten.« Er gackerte über diesen alten Witz, den Irv und Norma schon hundertmal gehört hatten, und steckte sich noch eine Olive in den Mund. »Wissen Sie, ich müßte eigentlich die Polizei verständigen.«
»Nein«, sagten Irv und Norma wie aus einem Mund und sahen einander so entsetzt an, daß Dr. Hofferitz wieder lachen mußte.
»Sie steckt doch offenbar in Schwierigkeiten, nicht wahr?«
Irv war unbehaglich zumute. Er öffnete den Mund und schloß ihn dann wieder.
»Hat es vielleicht etwas mit dem Ärger zu tun, den Sie im letzten Jahr hatten?«
Diesmal öffnete Norma den Mund, aber bevor sie etwas sagen konnte, meinte Irv: »Ich dachte, Sie müssen nur Schußverletzungen melden, Karl.«
»Nach dem Gesetz, nach dem Gesetz«, sagte Hofferitz ungeduldig und drückte seine Zigarette aus. »Aber es gibt nicht nur den Buchstaben, es gibt auch den Geist des Gesetzes. Hier ist ein kleines Mädchen, und Sie sagen, sie heißt Roberta McCauley, und das glaube ich sowenig, wie ich glaube, daß ein Schwein Dollarnoten scheißt. Sie sagt, daß sie sich den Rücken aufgekratzt hat, als sie unter einem Stacheldraht hindurchkriechen mußte. Daß einem so etwas auf dem Weg zu seinen Verwandten passiert, ist doch recht seltsam, selbst wenn das Benzin knapp ist. Sie sagt, daß sie sich an die letzte Woche kaum erinnern könne, und das glaube ich ihr. Wer ist sie, Irv?«
Norma sah ängstlich ihren Mann an. Irv lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah Dr. Hofferitz an.
»Ja«, sagte er endlich,
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