Feuerkind
Hauptsendezeit einige alberne Fernsehspiele, dann die Nachrichten und später die Tonight Show. Und ungefähr alle fünfzehn Minuten stand Norma auf und verließ leise das Zimmer, um nach Charlie zu sehen.
»Wie geht es ihr?« fragte Irv gegen Viertel vor eins.
»Gut. Sie schläft.«
Irv grunzte.
»Hast du darüber nachgedacht, Irv?«
»Sie muß hierbleiben, bis sie wieder gesund ist. Dann werden wir mit ihr sprechen. Wir müssen herausbekommen, was mit ihrem Vater ist. Weiter habe ich noch nicht gedacht.«
»Wenn sie nun wiederkommen –«
»Warum sollten sie?« fragte Irv. »Sie haben uns zum Schweigen verpflichtet und denken, sie hätten uns Angst gemacht –«
»Sie haben mir Angst gemacht«, sagte Norma leise.
»Aber es war unrecht«, sagte Irv genauso leise. »Und das weißt du. Dieses Geld … dieses ›Versicherungsgeld‹ … dabei habe ich nie ein gutes Gefühl gehabt. Du etwa?«
»Nein«, sagte sie und rutschte nervös hin und her. Aber was Dr. Hofferitz sagt, stimmt, Irv. Ein kleines Mädchen braucht ihre Familie … und sie muß in die Schule gehen … und Freunde haben … und … und –«
»Du weißt doch, was sie damals getan hat«, sagte Irv tonlos. »Dieses Pyro… wie heißt es noch. Du selbst hast sie ein Ungeheuer genannt.«
»Dies unfreundliche Wort habe ich schon lange bereut«, sagte Norma. »Ihr Vater – er schien ein so netter Mann zu sein. Wenn wir nur wüßten, wo er jetzt ist.«
»Er ist tot«, sagte eine Stimme hinter ihnen, und Norma schrie auf, als sie sich umdrehte und Charlie in der Tür stehen sah. Sie war jetzt sauber und sah dafür um so blasser aus. Ihre Stirn glänzte fiebrig, und Normas Flanellnachthemd hing lose an ihr. »Mein Daddy ist tot. Sie haben ihn umgebracht, und ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Bitte, helfen Sie mir. Es tut mir so leid. Es ist doch nicht meine Schuld. Ich habe ihnen gesagt, daß es nicht meine Schuld ist … ich habe es ihnen gesagt … aber diese Dame sagte, ich sei eine Hexe … sie sagte …« Jetzt kamen die Tränen und flössen ihr die Wangen herab, und Charlies Stimme löste sich in Schluchzen auf.
»Oh, Honey, komm her zu mir«, sagte Norma, und Charlie rannte hin.
7
Dr. Hofferitz kam am nächsten Tag und stellte fest, daß Charlies Befinden sich gebessert hatte. Er kam zwei Tage später und stellte fest, daß sich ihr Befinden sehr gebessert hatte. Er kam am Wochenende und erklärte sie für gesund.
»Irv, weißt du schon, was du tun willst?«
Irv schüttelte den Kopf.
8
An diesem Sonntag morgen ging Norma allein in die Kirche und sagte den Leuten, daß Irv stark erkältet sei. Irv war bei Charlie geblieben, die immer noch schwach war, sich aber im Haus bewegen konnte. Am Vortage hatte Norma ihr einige Kleidungsstücke gekauft – nicht in Hastings Glen, wo ein solcher Kauf aufgefallen wäre, sondern in Albany.
Irv saß am Ofen und schnitzte, und nach einer Weile kam Charlie und setzte sich neben ihn. »Wollen Sie es nicht erfahren?« fragte sie. »Wollen Sie nicht wissen, was geschah, nachdem wir mit Ihrem Auto weggefahren waren?«
Irv sah von seiner Schnitzarbeit auf und lächelte. »Ich denke, das wirst du uns schon erzählen, wenn du soweit bist, Kleines.«
Sie lächelte nicht zurück, und ihr Gesicht blieb blaß und angespannt. »Haben Sie keine Angst vor mir?«
»Sollte ich denn?«
»Haben Sie keine Angst, daß ich Sie verbrenne?«
»Nein, Kleines. Das glaube ich nicht. Ich will dir mal etwas sagen. Du bist kein kleines Mädchen mehr. Vielleicht auch kein großes Mädchen – irgendwo in der Mitte –, aber du bist groß genug. Ein Kind in deinem Alter – jedes Kind – kann, wenn es will, Streichhölzer nehmen und das Haus anzünden. Aber das tun nicht viele. Warum sollten sie es auch tun wollen? Und warum solltest du es tun wollen? Einem Kind in deinem Alter sollte man ein Taschenmesser oder Streichhölzer anvertrauen können, wenn es einigermaßen gescheit ist. Nein. Ich habe keine Angst.«
Charlies Gesicht entspannte sich und zeigte einen Ausdruck fast unbeschreiblicher Erleichterung.
»Ich werde es Ihnen erzählen«, sagte sie dann. »Ich werde Ihnen alles erzählen.« Sie fing an zu sprechen und sprach immer noch, als Norma eine Stunde später nach Hause kam. Norma blieb an der Tür stehen, hörte zu und knöpfte langsam ihren Mantel auf und zog ihn aus. Sie legte ihr Portemonnaie auf den Tisch. Und immer noch sprach Charlie mit ihrer jungen und doch irgendwie alten Stimme unentwegt weiter und
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