Feuerkind
ein achtjähriges Kind und keine Superfrau. Sie kann sich nicht lange verstecken. Ich will, daß man sie findet, und ich will, daß man sie dann tötet.«
Sie sprach zu einem Mann in mittleren Jahren, der wie ein Kleinstadtbibliothekar aussah. Selbstverständlich war er keiner. Er legte die Hand auf einen Stapel Computer-Ausdrucke, die sie vor sich auf dem Tisch liegen hatte. Caps Akten hatten den Brand nicht überstanden, aber fast alle Informationen waren in den Datenbänken der Computer gespeichert. »Wie ist denn jetzt die Lage?«
»Was Lot Sechs anbetrifft, sind sämtliche Fälle vorläufig ad acta gelegt«, klärte ihn die Chefin auf. »Natürlich aus politischen Gründen. Elf alte Kerle, ein junger Mann und drei grauhaarige alte Damen, die wahrscheinlich Anteile an Schweizer Frischzellenkliniken besitzen … sie alle schwitzen Blut und Wasser, wenn sie daran denken, was geschehen würde, wenn das Mädchen wieder auftaucht. Sie –«
»Ich bezweifle sehr, ob die Senatoren aus Idaho, Maine und Minnesota Blut und Wasser schwitzen«, murmelte der Mann, der kein Bibliothekar war.
Die Chefin zuckte auf seinen Einwand hin die Achseln. »Natürlich sind sie an dem Projekt Lot Sechs interessiert.« Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr langes Haar – kraus, aber ein hübsches, dunkles Rot. ›»Vorläufig ad acta gelegt‹ heißt, nur so lange, bis wir ihnen das Mädchen mit einem Etikett an der Zehe vorzeigen können.«
»Wir müssen Salome spielen«, murmelte der Mann vor ihrem Schreibtisch. »Aber das Tablett ist noch leer.«
»Verdammt noch mal, was reden Sie da?«
»Nichts weiter«, sagte er. »Wir sind also wieder bei Null.«
»Das nicht«, erwiderte die Chefin böse. »Sie hat ja nicht mehr den Vater, der auf sie aufpaßt. Sie ist allein. Und ich will, daß man sie findet. Schnell.«
»Und wenn sie alles erzählt, bevor wir sie finden?«
Die Chefin lehnte sich in Caps Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Nacken. Der Mann, der kein Bibliothekar war, beobachtete genüßlich, wie der Pullover sich über ihren Brüsten straffte. Cap war ganz anders gewesen.
»Wenn sie alles erzählen wollte, hätte sie es wohl schon längst getan.« Sie beugte sich vor und tippte auf den Tischkalender. »Wir haben den fünften November«, sagte sie, »und nichts ist geschehen. Inzwischen haben wir alle nötigen Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Die Times, die Washington Post, die Chicago Tribüne … wir lassen keine wichtige Zeitung aus, aber bis jetzt hat sich nichts getan.«
»Nehmen wir an, sie wendet sich an eine kleinere Zeitung? An die Podunk Times statt an die New York Times? Wir können doch nicht jedes Provinzorgan überwachen.«
»Bedauerlicherweise haben Sie recht«, sagte die Chefin. »Aber bisher war nichts. Und das bedeutet, daß sie sich noch nicht geäußert hat.«
»Wer würde einer Achtjährigen denn eine solche entsetzliche Geschichte glauben?«
»Wenn sie am Ende der Geschichte ein kleines Feuer anzündet, wären die Leute wohl dazu geneigt«, antwortete die Chefin. »Wollen Sie wissen, was der Computer sagt?« Sie lächelte und tippte auf den Bogen. »Der Computer sagt, daß wir dem Komitee mit achtzigprozentiger Sicherheit ihre Leiche bringen können, ohne auch nur einen Finger zu rühren … außer um sie zu identifizieren.«
»Selbstmord?«
Die Chefin nickte. Die Aussicht darauf schien ihr sehr zu gefallen.
»Gut«, sagte der Mann, der kein Bibliothekar war, und stand auf. »Was mich betrifft: ich erinnere mich, daß der Computer mit einiger Sicherheit registriert hat, daß Andrew McGee seine Fähigkeiten nicht mehr besaß.«
Über das Lächeln der Chefin legte sich ein leiser Schatten.
»Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag, Chefin«, sagte der Mann, der kein Bibliothekar war, und schlenderte hinaus.
3
An eben diesem Novembertag war ein Mann in einem Flanellhemd, Flanellhosen und hohen grünen Stiefeln mit Holzhacken beschäftigt. Es war ein milder Tag, und der Winter schien noch weit entfernt; die Temperatur betrug angenehme zehn Grad. Die Jacke des Mannes, die er auf dringenden Wunsch seiner Frau angezogen hatte, hing jetzt an einem Zaunpfahl. Hinter ihm, an der Wand der alten Scheune aufgestapelt, lag ein beachtlicher Haufen orangeroter Kürbisse – von denen einige bedauerlicherweise schon faulten.
Der Mann legte einen weiteren Klotz auf den Hackblock, hob die Axt und ließ sie niedersausen. Mit einem Krachen wurde der Klotz gespalten, und an jeder Seite des
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