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Feuerkind

Feuerkind

Titel: Feuerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Sünden.
6
    Dr. Joseph Wanless hatte seinen Schlaganfall an dem Tage erlitten, an dem Nixon seinen Rücktritt von der Präsidentschaft erklärte – am 8. August 1974. Es war ein Gehirnschlag von mittlerer Schwere gewesen, und physisch hatte er sich nie wieder so richtig davon erholt. Nach Caps Ansicht auch geistig nicht. Erst seit dem Schlag war sein Interesse an dem Experiment mit Lot Sechs und dessen Folgen zur Besessenheit geworden.
    Auf einen Stock gestützt, betrat Wanless den Raum. Das Licht vom Erkerfenster fing sich in seinen runden, randlosen Brillengläsern und ließ sie funkeln. Seine linke Hand war zu einer Klaue gekrümmt. In seinem linken Mundwinkel klebte ein eisiges Grinsen.
    Rachel schaute Wanless über die Schulter und warf Cap r einen mitfühlenden Blick zu. Mit einer Kopfbewegung bedeutete Cap ihr, den Raum zu verlassen. Sie tat es und schloß leise die Tür.
    »Der gute Doktor«, sagte Cap ohne jeden Humor.
    »Na, wie läuft’s?« fragte Wanless und nahm ächzend Platz.
    »Geheim«, sagte Cap. »Das wissen Sie doch, Joe. Was kann ich heute für Sie tun?«
    »Ich habe mir angesehen, was hier so los ist«, sagte Wanless, der Caps Frage völlig ignorierte. »Was blieb mir sonst übrig, wo ich mir den ganzen Vormittag die Beine in den Leib stehen mußte.«
    »Dann müssen Sie eine Verabredung treffen, bevor Sie herkommen.«
    »Sie glauben schon wieder, daß Sie sie fast erwischt haben«, sagte Wanless.
    »Was sollte Steinowitz sonst hier? Nun, vielleicht stimmt es ja. Vielleicht. Aber das haben Sie ja schon einmal geglaubt, nicht wahr?«
    »Was wollen Sie, Joe?« Cap mochte nicht gern an vergangene Fehlschläge erinnert werden. Sie hatten das Mädchen tatsächlich schon einmal gehabt. Die Männer, die daran mitgewirkt hatten, waren immer noch nicht einsatzfähig und würden es vielleicht nie wieder sein.
    »Was will ich denn immer?« fragte Wanless auf seinen Stock gebeugt. Oh, Gott, dachte Cap, das alte Arschloch wird wieder rhetorisch. »Warum bleibe ich am Leben? Um Sie zu überreden, gegen beide Zwangsmaßnahmen einzuleiten. Auch gegen die Leute in Maui. Extreme Zwangsmaßnahmen, Captain Hollister. Löschen Sie sie aus. Tilgen Sie sie von der Erdoberfläche.« Cap seufzte.
    Wanless deutete mit seiner verkrümmten Hand auf den Bibliothekskarren. »Ich sehe, daß Sie sich wieder mit den Akten beschäftigt haben.«
    »Ich kenne sie fast auswendig«, sagte Cap und lächelte dann schwach. Während des letzten Jahres war Lot Sechs sein tägliches Brot gewesen; während der zwei Jahre davor hatte es bei jeder Besprechung auf der Tagesordnung gestanden. Vielleicht war Wanless hier also nicht der einzige, der besessen war. Mit einem Unterschied Ich werde dafür bezahlt. Für Wanless ist es ein Hobby. Ein gefährliches Hobby.
    »Sie lesen sie, aber Sie lernen nichts«, sagte Wanless. »Lassen Sie mich noch einmal versuchen, Sie zur Wahrheit zu bekehren, Captain Hollister.«
    Cap wollte protestieren, aber dann dachte er an Rainbird, mit dem er für zwölf Uhr verabredet war, und seine Miene glättete sich. Sein Gesicht wurde ganz ruhig, sogar freundlich. »In Ordnung«, sagte er. »Schießen Sie los.«
    »Sie glauben doch immer noch, daß ich verrückt bin. Ein Irrer.«
    »Das haben Sie gesagt.«
    »Es wäre gut, wenn Sie sich daran erinnerten, daß ich als erster ein Testprogramm mit dilysergischer Triumsäure vorschlug.«
    »Es gibt Tage, an denen ich wünschte, daß Sie es nicht getan hätten«, sagte Cap. Wenn er die Augen schloß, sah er noch Wanless’ ersten Bericht vor sich, eine zweihundert Seiten dicke Schrift über eine Droge, die anfangs als DLT bekannt gewesen war, dann von den beteiligten Technikern »Verstärkersäure« genannt wurde, bis man sie dann endlich als Lot Sechs bezeichnete. Caps Vorgänger hatte das ursprüngliche Projekt genehmigt; und dieser Gentleman war vor sechs Jahren mit allen militärischen Ehren in Arlington zu Grabe getragen worden.
    »Ich sage nur, daß meine Ansicht doch einiges Gewicht haben sollte«, sagte Wanless. An diesem Morgen klang seine Stimme müde, und er sprach langsam und undeutlich. Das schiefe Grinsen in seinem linken Mundwinkel blieb auch beim Sprechen.
    »Ich höre zu«, sagte Cap.
    »Soweit ich weiß, bin ich der einzige Psychologe oder Mediziner, der bei Ihnen noch Gehör findet. Es gibt nur eins, was Ihren Leuten den Blick verstellt hat: was dieser Mann und dieses Mädchen für Amerikas Sicherheit bedeuten könnten … und möglicherweise für das

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