Feuermal: Der zweite Fall für Jan Swensen
gewesen sein?«
»Und
tötet nicht das Leben, das Allah unverletzlich gemacht hat, es sei denn mit
Recht.«
Wischiwaschi,
denkt Swensen angesäuert. Hier erfährst du nichts.
»Kann
der 11. September rechtens sein?«, bricht sein aufgestauter Ärger plötzlich aus
ihm heraus. Er erschrickt, als er seine überzogen scharfe Stimme hört. Einen
Moment herrscht absolute Stille. Der Imam setzt sein Fingerspiel fort.
Klick-Klick.
»Allah
verbietet es, Leben zu töten!«
»… es
sei denn mit Recht!«, ergänzt Swensen.
Der
ältere Mann erhebt sich, geht zu einem überladenen Bücherbord und kehrt mit
einem kleinen Büchlein zurück. Der Umschlag ist sepiafarben. Der Titel lautet
übersetzt: ›Der Westen ist krank‹. Er schlägt das Büchlein an einer markierten
Stelle auf und liest vor: »Der Westen redet von Demokratie und von Freiheit.
Aber hinter dem Gerede stecken nur die Supermächte. Sie locken unsere Jugend in
ihre Städte. Sie locken sie an die Orte der Verderbnis. Verderbte Moral hält
der Westen für Freiheit, Prostitution für Freiheit. Es ist eure Freiheit über
Bars, Bordelle, Spielkasinos und Opium zu verfügen. Wir lehren unsere Jugend
eine neue geschichtliche Epoche zu gestalten. Wir wollen keine Kopfmenschen,
wir wollen Menschen der Tat. Der Islam ist unbesiegbar.«
Klick-Klick-Klick.
»Wer
hat das geschrieben?«, fragt Swensen nach einer Weile.
»Das
sind die Worte von Ayatollah Khomeini!«
»Ein
gefährliches Fazit, finde ich! Wollen sie damit den 11. September
rechtfertigen?«
»Nein!
Sie verstehen den Islam nicht! Seine Schönheit liegt im Gleichgewicht von
Gesetz und Barmherzigkeit. Wir leben im Zeitalter des Satans. Die Menschen sind
nicht an Wahrheit interessiert. Sie leben in einer unendlichen Flut von
Information. Aber zu viel Information ist genauso schädlich wie zu wenig
Information. Der 11. September ist nur die Antwort auf dieses Chaos. Deshalb
besteht ein dringendes Bedürfnis nach dem islamischen Glauben.«
Der
Kriminalist merkt, dass er den missionarischen Unterton nicht mehr aushalten
kann. Er tippt seinem Dolmetscher auf die Schulter, der erschrocken aus seiner
Tagträumerei fährt und dabei fast seine Brille verliert.
»Das
war’s, wir sind fertig!«
Der
kleine, breitschultrige Mann mit schmaler Taille und einer randlosen Brille
erhebt sich dynamisch, indem er den Stuhl mit lautem Getöse zur Seite schiebt.
»Was
sagt man zum Abschied in Pakistan?«
»Khoda
hafiz, Allah sei mit dir!«
»Khoda
hafiz«, sagt Swensen, nickt mit dem Kopf und folgt dem Dolmetscher durch die
Tür. Sie stapfen das schmucklose Treppenhaus des Hochhauses hinab. Die
Betonwände sind vollgesprayt mit bunten Graffitis.
»Was
hältst du von dem Mann?«, fragt Swensen seine türkische Begleitung, als sie
ohne Eile den Erichsenweg in Richtung Innenstadt hinabschlendern. Die schicken
Eigenheime mit den prächtigen Vorgärten sind das krasse Gegenteil zu der
Hochhaussiedlung, aus der sie gerade kommen.
»Ganz
ehrlich, ich hab nicht zugehört«, antwortet der junge Türke.
Der
Kommissar ist endgültig ernüchtert. Trantütiger hätte dieser Tag nun wirklich
nicht verlaufen können. Schon am Morgen hatten sie sich durch fast alle
türkischen Wohnungen in Husum gearbeitet. Kaum einer der ausländischen
Mitbewohner war der deutschen Sprache wirklich mächtig. Doch trotz Übersetzer
waren nur wenige bereit gewesen, der Polizei auch nur ein Sterbenswörtchen zu
sagen. Und am Ende jetzt noch dieser pakistanische Heilige. Der hatte ihm
beinahe den Rest gegeben.
In
einigen Punkten hat der Imam gar nicht so unrecht, denkt Swensen. Westliche
Dekadenz ist eine reale Tatsache. Dass sie eines Tages auf uns selbst
zurückfallen könnte, hab ich mir auch schon ausgemalt. Als Buddhist klingt das
nicht einmal unlogisch. Ursache und Wirkung gleich kapitalistische
Ausschweifung und Untergang. Aber rechtfertigt das den 11. September? Nein! Im Detail
ist eine Verknüpfung absurd. Bei genauer Betrachtung läuft das auf eine Duldung
von Gewalt hinaus. Der Westen ist kein abgeschlossenes System, das nur Bordelle
und Spielhöllen hervorbringt.
»Unser
Geist sieht oft wie ein Spiegel, der nur das wiedergibt, was man ihm
entgegenhält«, hört er die Worte von Meister Rinpoche.
1974:
Invasion der türkischen Armee auf Zypern
Sonntag,
der 21. Juli
›In Kriegszeiten verborgt man kein Schwert!‹ Georgios Cardiff beschlich
eine bittere Ahnung, warum sich das alte zypriotische Sprichwort in den letzten
Tagen
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