Feuermohn
Sonne, und ich denke, der Verlag wird einmal ein paar Stunden ohne mich zurechtkommen.“
„Sicher! Ich bin nur etwas irritiert, wo du doch sonst mit deinem Schreibtisch verheiratet scheinst.“ Er zwinkerte ihr zu. „Mach dir einen schönen Nachmittag!“
Anna war bekannt dafür, dass sie bis weit in die Abendstunden hinein arbeitete. Oft saß sie noch bis Mitternacht am Schreibtisch. Sie liebte ihren Job. Und sie liebte das Magazin, als wäre sie die Herausgeberin. Jede einzelne Seite darin sollte erstklassig sein. Und für einen exzellenten Artikel strengte sie sich an, legte sich ins Zeug und machte Überstunden, ohne jemals nach einem Freizeitausgleich zu fragen. Jeder hier im Verlag wusste das – ihre Kollegen, die Putzfrauen, die abends artig an die Tür klopften und fragten, ob sie schon stören und den Teppich saugen dürften und natürlich der Chef höchstpersönlich.
Aber für heute war Feierabend.
Eine halbe Stunde später saß Anna gemeinsam mit ihrer Freundin Caroline in einem Straßencafé, in dem sie auf ihre Eisbecher warteten.
Caroline war eine schöne, schlanke, hochgewachsene Frau mit tiefschwarzem Haar und eisblauen Augen. Eine äußerst elegante Erscheinung in ihrem taubenblauen Kostüm. Anna hingegen war nicht besonders groß, hatte ein paar Pfund zu viel auf den Hüften und konnte mit der modischen Raffinesse ihrer Freundin nicht mithalten. Jedoch wohnte in ihren Augen eine Lebendigkeit, die dies wieder ausglich. Ihr kastanienbraunes Haar trug sie zu einem lockeren Knoten gebunden. Ihre Kleidung war leger, denn sie bevorzugte es praktisch. Auch im Wesen unterschieden sie sich gravierend. Während Caroline besonnen, ruhig und diplomatisch war – immer darauf bedacht, für Harmonie zu sorgen und die Wogen zu glätten – war Anna ein Ausbund an Temperament. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, sagte unverblümt, was sie dachte, ohne sich auch nur einen Funken darum zu scheren, was andere dachten. Ihr impulsives Wesen und ihre spitze Zunge waren ebenso gefürchtet wie ihr messerscharfer Verstand und ihre Schlagfertigkeit.
So sehr sich die beiden auch unterschieden, seelisch und mental standen sie sich nah. Sie waren Seelenfreundinnen – nichts und niemand konnte sie entzweien. Sie hatten schon unzählige Nächte hindurch geplaudert, gelacht, geweint, bis der Morgen graute, und die ersten Sonnenstrahlen den neuen Tag ankündigten. Sie wussten alles voneinander, es gab keine Geheimnisse. Dennoch war Anna mit einem Mal unwohl bei dem Gedanken, der Freundin von den geheimen Sehnsüchten zu erzählen, die sich unbemerkt in ihr Leben geschlichen hatten.
Es war ungewöhnlich warm, so warm, dass es die Menschen geradezu magisch in die Stadt zog. Sie bummelten an den Schaufenstern entlang, genossen relaxte Momente in Cafés oder saßen einfach nur entspannt auf einer der sauber gestrichenen Bänke, die das Stadtbild zierten. Die wenigen Straßencafés waren überfüllt, dennoch gelang es den Freundinnen, in ihrem Lieblingscafé einen freien Tisch zu ergattern.
Und noch während Caroline sich eine Zigarette anzündete, erzählte Anna ihr von den aktuellen Plänen der Redaktion und davon, wie sehr sie sich geärgert hatte.
Caroline blies Zigarettenrauch in die Luft, schnippte Asche in einen Aschenbecher und hörte aufmerksam zu. Sie war nicht nur Annas beste, sondern auch ihre einzige Freundin. Eine erfolgreiche Diplom-Psychologin, die in eigener Praxis Depressionen und Neurosen therapierte. Caroline war es gewohnt, die Handlungen, Gedanken und Gefühle ihrer Klienten zu analysieren. Und manchmal machte sie auch vor der Freundin nicht Halt.
„Du wirkst fahrig. So, als würde dich noch etwas ganz anderes beunruhigen. Schieß los!“ Caroline schob den Aschenbecher zur Seite, damit der Kellner die Eisbecher vor sie hinstellen konnte.
Anna hob ihre Augenbrauen. „Hey, du hast Feierabend. Ich übrigens auch. Bitte keine Analysen, ja?“ Ihr schneidender Ton ließ Caroline aufhorchen. Aber sie sagte nichts. Sie spürte instinktiv, dass es in diesem Fall besser war, nicht weiter zu bohren.
In Anna kämpften währenddessen zwei Seiten. Sollte sie? Oder besser doch nicht?!
Einerseits wünschte sie sich, darüber zu reden. Andererseits hatte Carolines analytischer Blick sie abgeschreckt. Außerdem sah die Welt jetzt, wo sie in der Sonne saß, ihr Eis genoss und der Computer weit weg war, ganz anders aus. Sie beschloss, alles tief in sich einzuschließen, Ellas Tagebuch aus ihren PC-Favoriten, ebenso
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