Feuerprinz
betreten den Kopf und flüsterte: »Du willst Engil verlassen, oder? Du willst alles hinter dir lassen und fortgehen. Du willst mich verlassen, die Priesterinnen, den Tempel. Wenn du gehst, ist alles, woran wir glauben, verloren. Wer braucht noch Priester oder Tempel für eine Göttin, die uns nicht will?«
Lin ließ ebenfalls den Kopf hängen, denn genau hatte sie noch nicht darüber nachgedacht, was ihr Verschwinden für Engil oder Jevana bedeutete. Doch als Jevana ihre Bedenken aussprach, wurde ihr einmal mehr klar, dass sie gehen musste. Engil konnte nie wieder ihr Zuhause sein; nicht nach allem, was sie dort verloren hatte – ihre Eltern und Degan.
Plötzlich kehrte Ruhe in ihr rastloses Herz ein. Sie spürte ganz deutlich, dass sie den alten Weg verlassen musste, um einen neuen zu finden. Der Gedanke daran machte ihr überraschenderweise keine Angst.
Sie löste Salas Tränen von ihrem Hals und legte sie in Jevanas Hände. »Du warst schon immer die bessere Priesterin von uns beiden. Du warst immer mutiger und tatkräftiger als ich, und du kannst die Menschen in ein selbstbestimmtes Leben ohne die Willkür eigenwilliger Götter führen. Du bist die weitaus bessere Königin für Engil … die Königin, die sie nun brauchen.«
Ungläubig wollte Jevana ihr die Kette zurückgeben, doch Lin schüttelte den Kopf und bedeutete damit, dass sie sich entschieden hatte. »Du hast das Unheil von ihnen abgewendet … nicht ich! Duhattest den Mut, in Muruks Tempel zu gehen. Das hätte ich niemals gewagt.«
»Aber du hast dich für uns alle opfern wollen«, widersprach Jevana trotzig. »Das ist mutig!«
»Aber es ist nicht die Art von Mut, die ein Königreich erhält. Ein König opfert sich nicht für sein Volk, er kämpft dafür und bleibt an seiner Seite! Ich habe nicht gesiegt. Im Gegenteil … ich musste gerettet werden.«
Lin nutzte die Verunsicherung der Priesterin, murmelte ein leises
Belis nani
und wandte sich ab. Es war schwer genug, Abschied zu nehmen.
Doch so schnell wollte Jevana nicht aufgeben. »Wir könnten Engil wieder einen Schwesternthron geben – einen friedlichen dieses Mal. Mein Mut und deine Sanftheit. Was ist verkehrt daran?« Jevanas Stimme klang verzweifelt.
Lin blieb stehen und sprach das aus, was ihr endgültig den Rückweg nach Engil verwehren würde. »
Er
würde zurückkehren nach Engil um meinetwillen! Wo immer ich bin, ist auch die Gefahr.«
Das Schweigen, welches ihren Worten folgte, zeigte Lin, dass Jevana verstanden hatte und ihre Entscheidung schweren Herzens akzeptierte.
»
Belis nani
, Schwester und Freundin«, hörte sie Jevana flüstern.
Lin drehte sich nicht noch einmal um, damit die Freundin nicht sah, dass sie weinte. Jevanas Weg führte zurück nach Engil … ihr eigener in eine ungewisse Zukunft.
Je tiefer Lin in die Wälder von Isnal lief, desto befreiter begann sie sich zu fühlen, aber auch einsamer. Die Bäume standen dichter, je weiter sie lief, und sogar das Zwitschern der Vögel wurde leiser, bis Lin irgendwann das Gefühl hatte, von der Stille um sie herumerdrückt zu werden. Noch immer hatte sie keinen Entschluss gefasst, wohin sie gehen sollte. Um die Waldfrauen würde sie jedoch einen großen Bogen machen. Wer wusste schon, welche von ihnen ihr wohlgesinnt war und welche Mordgedanken gegen die Göttin und damit gegen sie selbst hegte.
Trotzdem ging es bereits auf den Abend zu, und sie musste ein Nachtquartier und etwas zu essen finden. Entmutigt blieb sie stehen und sah sich um – Bäume, wohin sie sich wendete. Lin hatte das Gefühl für die Himmelsrichtungen längst verloren. Alles um sie herum sah gleich aus. Mit ungutem Gefühl setzte sie sich auf einen Baumstamm und gestand sich ein, sich hoffnungslos verlaufen zu haben; zu allem Überfluss fühlte sie sich plötzlich aus jeder Richtung beobachtet – von glühenden roten Augen oder solchen, die wie harte Steinchen aus boshaften Gesichtern starrten. Lin schloss die Augen und beruhigte sich selbst. Da war nichts, keine Augen hinter den Büschen und Bäumen, keine Waldfrauen und kein Elven. Die Schjacks und Greife waren von Degans Greifenheer verjagt worden, und der dunkle Gott war einstweilen in sein Reich verbannt. Dass er aufhören würde sie zu verfolgen, daran glaubte sie ebenso wenig wie die Waldfrauen oder Jevana. Der Kampf des Gottes um seine Gefährtin würde erst mit ihrem Tod enden. Doch bis dahin, so hatte Lin entschieden, wollte sie ein ganz normales Menschenleben haben … alt werden
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