Feuersteins Reisen
legen würde. Aber entweder war sie zu faul zum Suchen oder man spricht dort immer noch ausschließlich Russisch — jedenfalls hat sie bis heute den Brief nicht gelesen. Und das ist sicher auch gut so, denn wer weiß, was mein Lohnschreiber in meinem Namen zusammengeschrieben hat. Vielleicht lauter wüste Schweinereien? Dann hätte sie mich bestimmt mit völlig überzogener Erwartung geheiratet und wäre heute bitter enttäuscht.
Auch die folgende Szene mit dem Müll endete genau dort. Aber da lag das Problem weniger in der Schwierigkeit mit der ironischen Distanz als in einer richtigen Falle. Einer bösen und gefährlichen.
Mexiko hat etwa gleich viel Einwohner wie Deutschland, ist aber flächenmäßig fast sechsmal so groß, so dass es eigentlich genug Platz gäbe, die Einwohner gerecht übers ganze Land zu verteilen. Aber es zieht sie alle in die Hauptstadt. Zwanzig Millionen dürften es inzwischen sein, ein Viertel also der gesamten Bevölkerung — stellen Sie sich das mal in UNSERER Hauptstadt vor. In Bonn wäre das vielleicht noch möglich gewesen. Aber niemals in Berlin.
Über 5 oo Slums zählt man in Mexiko-Stadt, genannt ciudades perdidas, »verlorene Städte«. Die verlorensten davon liegen am Rand oder inmitten der öffentlichen Müllhalden, die auch die Lebensbasis liefern: wieder verwertbare Abfälle für die Menschen, fressbare Abfälle für deren Ziegen und Schweine. Das klingt nicht unbedingt wie ein Pflichtthema für einen unterhaltenden Reisefilm, und Wolpers war auch ziemlich dagegen. Aber da eine der großen Deponien ohnehin auf unserem Weg lag, bestand ich darauf: Wie könne man den Moloch Mega-Metropole besser ins Bild setzen als durch seinen Müll, argumentierte ich; ein paar atmosphärische Schnittbilder würden ganz sicher dabei herauskommen, vielleicht sogar eine kleine Geschichte am Rande. Müll reimt sich nicht umsonst auf Idyll.
Den Einwand von Señora Constanza, wir hätten gar keine Drehgenehmigung, tat ich als lächerlich ab: Seit wann ist der Anblick von Abfall genehmigungspflichtig? Ich brauche ja auch keine Drehgenehmigung, wenn ich Wolpers filme, oder?
Je näher wir der Mülldeponie kamen, desto eindringlicher wurde Constanzas Appell, auf diesen Dreh zu verzichten. Aber da die mexikanische Höflichkeit recht gewunden verläuft und Abkürzungen auch in emotionalen Momenten nicht zulässt, hatte ich das nicht ernst genommen und den Sinn ihrer Worte nur so gedeutet, dass sie den Schauplatz für uninteressant und die Geschichte für unergiebig hielt.
Wir waren schon kurz vor dem Ziel, als sie plötzlich, ohne die üblichen Einleitungsphrasen, Klartext sprach: »Señor Feuerstein, Señor Wolpers, Señor Simon, Señor Theissen« — so begann sie in streng protokollarischer Rangfolge jede Mitteilung an uns alle, auch wenn es nur die Frage war, ob wir eine Pinkelpause einlegen wollten —, »was Sie vorhaben, ist lebensgefährlich!«
Sofort wurde mein journalistischer Instinkt hellwach: Wie Clark Kent in Superman verwandelte ich mich vom WDR-Clown zum CNN-Reporter. Da war sie also, die Geschichte, auf die ich mein Leben lang gewartet hatte. Und ich hatte genau die richtige Mannschaft dafür, die sofort die Lage erfasst hatte und instinktiv schon die ersten Vorbereitungen traf, bereit, für eine gute Story das Leben zu opfern: Stephan, gewalterprobt vom Oktoberfest bis zum Elfmeter in der 89. Minute, griff bereits nach der Kamera. Erik schraubte den Mikrofongalgen zusammen, den man notfalls sowohl als Wurf- wie als Stichwaffe verwenden kann, überprüfte die Spitzen des Stativs und massierte seine Friesenkämpfer-Muskeln. Und Wolpers rechnete sich die Ersparnisse in Hotel- und Flugkosten aus, wenn einer von uns stürbe.
Müllabfuhr und Müllverwertung wären total in der Hand von Gangstern, beschwor uns Señora Constanza; das ganze Gelände befände sich unter ihrer Kontrolle, ja, praktisch in ihrem Besitz, Polizisten würden sich nicht mal in die Nähe wagen. Es ginge weit über den Müll hinaus auch um Schutzgeld, Erpressungen, Entführungsverstecke, weshalb kein Fremder hier geduldet würde, ein Kamerateam schon gar nicht. Unser Unterfangen wäre der reine Selbstmord.
Dass gerade die Ärmsten noch zusätzlich von Verbrecherorganisationen beherrscht und ausgebeutet werden, ist keine Erfindung Mexikos, sondern der traurige Normalzustand in weiten Teilen der Welt. Ich hatte schon einmal eine hautnahe Erfahrung damit gehabt, in Rio, als ich mir von einem brasilianischen Freund in
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