Feuersteins Reisen
unschuldiger Neugier eine favela zeigen ließ, ein Slum-Viertel.
Wir waren keine hundert Meter weit gekommen, als wir von mehreren Burschen gestoppt wurden: Was wir hier wollten? »Ich bin gekommen, um zu lernen...«, begann ich meine traditionelle Ansprache an die einheimische Bevölkerung, übersetzt von meinem Begleiter, aber das interessierte sie nicht. Sie wollten von uns zehn Dollar pro Person als Schutzgeld. Weil es hier gefährlich sei. Oder damit es nicht gefährlich WÜRDE.
Da ich, wie mehrere Ehen beweisen, leicht erpressbar bin und mich als ordentlicher Steuerzahler längst an zwangsvollstreckte Gebühren gewöhnt habe, zahlte ich ohne zu murren, und da die meisten Gangster nichts anderes sind als verhinderte Banker, war dadurch sofort alles im Lot: Die wilden Kerle wurden zu geselligen Begleitern, mit denen wir hinterher noch ein Bierchen tranken.
Hier, am Rand von Mexiko-Stadt, waren die Dinge aber doch ein paar Grade härter, obwohl zunächst alles ruhig und friedlich erschien. Von der Süd-Autobahn waren wir in die kurze Zufahrt zur Mülldeponie abgebogen und an verschlossene Metalltore gekommen. Hohe Mauern versperrten jede Einsicht, und ein schläfriger Wächter — es war Samstag Mittag — deutete durch eine Luke an, dass er nichts mit uns zu tun haben wollte.
An der Mauer entlang fuhren wir über einen Feldweg auf eine kleine Anhöhe, die uns Überblick verschaffte: Vor uns lag eine weite, planierte Fläche, durchzogen von Entwässerungsgräben, offenbar ein schon aufgefüllter und entsorgter Teil der Deponie. In weiter Ferne, fast schon am Horizont, war im Dunst oder Rauchnebel die offene Halde zu sehen, mit einzelnen, gebückten Gestalten, viel zu weit weg, um ihr Tun zu erkennen — mit anderen Worten: das langweiligste Bild aller bisherigen Drehtage. Aber da wir schon mal da waren, packten wir die Geräte aus; vielleicht gab das Teleobjektiv was her.
Wir erschraken, als Señora Constanza plötzlich laut und hemmungslos zu weinen begann. Sie hätte es nicht sagen wollen, schluchzte sie, es täte ihr Leid und sie wolle unsere Arbeit nicht stören — aber sie habe sich überschätzt, es gehe über ihre Kräfte, sie könne nicht mehr, sie müsse hier weg. Und dann erzählte sie uns eine ziemlich schlimme Geschichte.
Entführungen mit Lösegeld-Erpressung sind in Mexiko zum Volkssport geworden. Dabei greifen sich die Gangster längst nicht mehr Millionäre oder Promis, denn die können sich Leibwächter leisten oder für so viel Medienrummel sorgen, dass sogar die korrupte und interesselose Polizei zum Eingreifen gezwungen ist. Stattdessen spezialisieren sie sich auf die Mittelschicht, die Gut- oder Besserverdienenden. Da sich die Entführer über die Vermögensverhältnisse des Opfers vorher genauestens informieren, ist ihre Lösegeldforderung zwar deftig, aber erfüllbar, meist zwischen 10 000 und 100 000 Mark, die die Familie mit Hilfe von Verwandten und Schulden gerade noch zusammenkratzen kann. Da so gut wie immer gezahlt wird, ist das Entführungsopfer meist schon nach ein paar Tagen unversehrt wieder zu Hause; die ohnehin nutzlose Polizei wird gar nicht erst eingeschaltet. Und da es keine Toten gibt, sind diese Fälle auch für Presse und Fernsehen uninteressant. So ist aus den Entführungen ein fast alltäglicher Geschäftszweig geworden, weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit, aber eine lebenslange Katastrophe für Opfer und Familie.
Ihr eigener Ehemann war so ein Opfer gewesen, erzählte uns Señora Constanza, keine zwei Jahre sei es her. Sein besonderes Pech war, als Deutscher blond zu sein, denn damit zählt man hier automatisch zur privilegierten, wohlhabenden Klasse. Entsprechend hoch war das Lösegeld gewesen; noch heute müssen die Schulden davon abgezahlt werden.
»Genau hier war es«, schluchzte sie, »in einer dieser Hütten haben sie ihn festgehalten, und da vorne haben sie ihn auf die Straße gestellt, als wir gezahlt hatten. Jetzt werden sie kommen und die Kamera zerschlagen. Sie werden mich erkennen und umbringen. Ich will weg von hier, ich will weg... «
Sie lief los, zurück in Richtung Autobahn, und wir standen da, erschrocken und ratlos.
Inzwischen schlenderten mehrere Männer auf uns zu. Weiß der Teufel, von wo sie hergekommen waren, jedenfalls näherten sie sich mit finsteren Gesichtern.
Stephan hatte die Kamera auf mich gerichtet, denn er spürte, dass jetzt die Stunde der Wahrheit gekommen war, die Szene, die man als Breaking News aus
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