Feuertanz
sagte: »Ich muss Sie jetzt leider bitten zu gehen. Dem neuen Patienten geht es recht schlecht.«
Irene nickte und stand auf. Ehe sie ging, küsste sie Krister noch einmal. Er unternahm einen kraftlosen Versuch, ihren Kuss zu erwidern. Seine Augen waren halb geschlossen, und er schien schon wieder am Einschlafen.
Irene warf einen Blick auf den neuen Patienten, einen alten Mann, der reglos mit geschlossenen Augen dalag. Er war unglaublich mager, und seine gelbfahle Haut wirkte wie auf seinen eingefallenen Schädel geklebt. Es ginge ihm schlecht, hatte die Schwester gesagt. Irene fand, dass er tot aussah. Und sie kannte sich mit Leichen aus.
Auf dem Heimweg wurde sie plötzlich hungrig. Sie hatte seit Mittag nichts mehr gegessen. Der Einfachheit halber nahm sie sich in der Pizzeria am Frölunda Torg etwas mit. In dem Augenblick, in dem sie den warmen, duftenden Karton entgegennahm, bereute sie es, aber da war es schon zu spät.
Sammie war überglücklich, als sie nach Hause kam. Mit zunehmendem Alter verabscheute er es immer mehr, allein zu Hause zu bleiben. Vielleicht verunsicherte es ihn, dass er nicht mehr so gut sah und hörte. Oder er war einfach nur ängstlich wie die meisten Alten. Im Frühjahr wurde er zwölf, ein beachtliches Alter für einen Hund.
Irene nahm keinen Teller aus dem Schrank, sondern aß die Pizza direkt aus dem Karton. Krister hätte sich wahnsinnig geärgert, wenn er sie so gesehen hätte! Stil und Etikette am Esstisch waren ihm wichtig. Immerhin hatte sie sich ein Bierglas geholt. Nicht einmal sie trank Bier gern direkt aus der Aludose.
Sie stellte die Pizza, den Kohlsalat, das Glas und die Bierdose zusammen mit dem Besteck auf ein Tablett und trug es ins Obergeschoss. Die dortige große Diele diente als Fernsehzimmer. Lustlos zappte sie herum und landete schließlich in einem Goldie-Hawn-Film. Wie immer spielte Goldie eine verwirrte und süße Blondine, die in Schwierigkeiten gerät, aber alles klärte sich zum Schluss auf. Aber nicht einmal mit einer Komödie auf diesem Niveau wurde sie im Augenblick fertig. Krister ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie machte sich Sorgen. Geistesabwesend nahm sie ein weiteres Stück Pizza. Es schmeckte nach kaltem Silikon. Sie kaute und kaute, schaffte es nicht, zu schlucken. Angeekelt spuckte sie alles wieder aus.
Sie hatte eine Quattro Stagione mit Schinken, Käse, Tomatensauce, Krabben, Muscheln und Artischocken bestellt. Wie hatte sie nur glauben können, dass sie eine mit einem riesigen Durcheinander belegte Pizza runterkriegen würde? Wie hatte sie nur …
Als sie die kalte Pizza betrachtete, löste sich plötzlich eine Sperre in ihrer Erinnerung. Auf einmal erkannte sie den Wahrheitsgehalt eines Satzes, der in der Ermittlung des Mordes an Sophie mehrfach gefallen war. Sie hatte fixe Ideen gehabt wie beispielsweise ihre einseitige Ernährung. Sie hatte immer dieselbe Pizza gegessen. Sophie hatte nie gelogen. Vielleicht hatte sie nicht alles erzählt, sondern war Fragen mit Schweigen begegnet, um die Wahrheit nicht sagen zu müssen. Aber sie hatte nie gelogen.
»Wie geht es Krister?«, wollte Tommy am Montagmorgen als Erstes wissen.
Ein paar Minuten vor der Morgenbesprechung trafen sie sich immer in ihrem gemeinsamen Dienstzimmer.
»Den Umständen entsprechend recht gut. Das war vermutlich das schlimmste Wochenende meines Lebens«, meinte Irene und warf Tommy einen müden Blick zu.
»Hat man die Brieftasche und das Handy gefunden?«
»Nein. Vielleicht hat er ja beides irgendwo liegen lassen. Wie er das mit den Einkaufstüten gemacht hat. Er kann auch nicht erklären, warum er beim Metzger so viel eingekauft hat. Als hätten wir eine Party! Er … er fängt dann immer sofort an zu weinen. Bei dem Gedanken, was er in den Stunden während seines Gedächtnisverlusts angestellt haben könnte, packt ihn die Panik. Er ist so … ausgelaugt. Hat überhaupt keine Kraft mehr.« Irene seufzte.
Tommy nickte. Ernst meinte er: »Das ist es vermutlich. Die ganze Kraft ist verbraucht. Vermutlich ist er ausgebrannt.«
»Wahrscheinlich. Der Arzt sagt, dass sein Kopf keine physischen Schäden aufweist. Das Problem ist psychischer Art. Aber er ist nicht psychisch krank, sondern einfach nur am Ende und deprimiert. Was laut Arzt auf seine Überarbeitung zurückzuführen ist.«
»Mit Depressionen ist nicht zu spaßen. Bei rein körperlichen Beeinträchtigungen empfinden alle Mitleid. Aber oft sind die psychischen Schäden schlimmer. Und denen bringt niemand
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