Feuertanz
hinein.
Aus dem Schlafzimmer war ein leiser Klagelaut zu vernehmen. Mit Schwester Ulla an der Spitze traten sie ins Zimmer. Es war so klein, dass dort außer dem Bett nur ein Nachttisch und eine kleine Kommode Platz fanden. Mit drei erwachsenen Personen im Zimmer kam ein Gefühl auf wie zu Stoßzeiten in der Straßenbahn. Dicht an dicht standen sie nebeneinander.
»Ich gehe solange raus«, sagte Tommy leise und verschwand ins Wohnzimmer.
Ingrid war blassgrau im Gesicht und sah sehr krank aus. Es war deutlich zu erkennen, dass sie einiges durchgemacht hatte. Die Narben auf ihrem Schädel leuchteten rot auf der bleichen Kopfhaut.
»Ingrid, das hier ist Irene Huss. Erinnern Sie sich an sie?«, fragte die Altenpflegerin.
Ingrids dünne Augenlider flatterten. Sie öffnete sie zur Hälfte, und ihr Blick irrte herum. Als er an Ingrid hängen blieb, sagte sie: »Die Polizistin.«
Ihre Stimme war schwach und zitterte, aber der grimmige Ton war nicht zu überhören. Sie schloss die Augen wieder, um den unwillkommenen Besuch nicht mehr sehen zu müssen. Irene räusperte sich und sagte: »Ich hoffe, dass Sie mir ein paar Fragen beantworten können.«
»Ich weiß nichts über das Mädchen. Habe sie nie mehr getroffen nach … nach …«, fauchte Ingrid wütend, hatte aber nicht die Kraft, den Satz zu beenden.
»Sie haben sie nach dem Brand vor fünfzehn Jahren nie mehr getroffen. Das weiß ich. Aber meine Fragen beziehen sich auf jenen Brand.«
»Lange her … ich will nicht!«, jammerte Ingrid.
Immerhin wirkt sie jetzt recht klar, dachte Ingrid. Es war schwierig zu beurteilen, wann sie verwirrt war und wann sie einfach nicht antworten wollte. Wenn man an das Geheimnis dachte, das sie all die Jahre bewahrt hatte, musste sie eine gute Schauspielerin gewesen sein.
»Ehe Sophie starb, schrieb sie alles nieder, was sich an dem Abend ereignete, als das Haus in Björkil brannte. Wir brauchten einige Zeit, um uns einen Reim auf ihren Bericht zu machen, denn sie bediente sich der … Ballettsprache, aber jetzt haben wir eine recht gute Vorstellung davon, was damals vorgefallen ist.«
Irene machte eine kurze Pause, damit die bleiche Frau im Bett das Gesagte verarbeiten konnte. Gleichzeitig dachte sie an die Handlung des Balletts, das sie gesehen hatte, an Sophies Debüt, den Feuertanz. Die Wahrheit.
Die Teilnehmer des Gastmahles begannen zu gähnen und legten sich nacheinander hin und schliefen ein. Das Licht wurde schwächer, und bald lag die Bühne in Dämmerlicht. Nur der Prinz war immer noch auf. Er hatte eine Flasche genommen und trank sie leer. Auf unsicheren Beinen erhob er sich dann und schwankte zum Turm. Da die Wächterin sich nicht auf ihrem Posten befand, konnte er ungehindert die Pforte öffnen.
»Sie haben erzählt, dass Sie Frej an jenem Nachmittag vom Bus abholten. Ihr Bruder wollte in die Stadt fahren und bat Sie deswegen, sich um den Jungen zu kümmern. Weiterhin gaben Sie zu Protokoll, dass Sie mit Frej gegessen hätten. Anschließend sei er eingeschlafen und hätte bis halb neun geschlafen. Stimmt das?«
Kein Muskel regte sich in dem entkräfteten Gesicht, aber Irene hatte den Eindruck, dass ihr Ingrid aufmerksam zuhörte. Ruhig fuhr sie fort: »Aber Sophies Bericht sieht anders aus. Laut ihrer Version ist sie wie immer nach Hause gekommen, um etwas zu essen und ihre Ballettsachen zu holen. Frej war bereits zu Hause. Er war betrunken. Er hatte eine der Schnapsflaschen seines Vaters gefunden und einiges intus. Bei einem Achtjährigen genügt schon eine geringe Menge. Wahrscheinlich waren Sie nach dem Essen eingeschlafen. Wahrscheinlich rief Sophie bei Ihnen an, weil sie nicht wusste, was sie machen sollte. Sie wollte nicht zu spät zum Lebensmittelladen kommen, weil sie sonst ihre Mitfahrgelegenheit und damit auch ihre Ballettstunde, das Wichtigste in ihrem Leben, versäumt hätte. Also rief sie bei Ihnen an, bevor sie zu dem Laden radelte. Es verging einige Zeit zwischen Sophies Aufbruch und Ihrem Eintreffen, vielleicht so etwa zehn oder fünfzehn Minuten. Frej hatte begonnen zu zündeln. Als Sie kamen …«
»Raus! Raus! Weg mit Ihnen!«, schrie Ingrid.
Ihre Rufe klangen herzzerreißend, und Schwester Ulla stürzte herein. Irene hatte nicht einmal gemerkt, dass sie Tommy ins Wohnzimmer gefolgt war.
»Wollen Sie die Ärmste umbringen?«, fauchte sie.
Irene richtete sich auf und streckte dem vor Entrüstung rot angelaufenen Gesicht der Altenpflegerin einen warnenden Finger entgegen.
»Wenn die arme
Weitere Kostenlose Bücher